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Patriotisch beflaggt: Der Union Jack im Dutzend am Parliament Square in London.
© Matt Dunham/AP/dpa

Brexit: Labour und Tories kommen sich näher

Labour-Chef Jeremy Corbyn und die Brexit-Hardliner bei den Tories klingen mittlerweile ganz ähnlich. Ist das patriotische Annäherung oder politisches Kalkül?

Der aktuelle „Economist“ ist mit einem Titelblatt erschienen, das Geschichte machen wird. Während zeitgleich das Kriegsepos „Dunkirk“ in die britischen Kinos kam, der Film zur Geschichte vom heldenhaften Rückzug der britischen Kontinentalarmee im Sommer 1940 vom Strand von Dünkirchen, zeigt die liberale Wochenzeitschrift in dem Cartoon auch einen weiten Strand mit vielen Briten – die Köpfe im Sand, im Hintergrund die Kliffs von Dover. Die Titelzeile lautet: "Dem Brexit ins Gesicht sehen." Sarkasmus in historischer Stunde. Der im Film evozierte „Geist von Dünkirchen“ wiederum gehört zu den patriotischen Standardfloskeln, wenn es darum geht, britische Einheit und Eigenständigkeit im Angesicht großer Gefahr, Bedrängnis von außen oder aussichtloser Lage oder allem zusammen aufzurufen. Ist es derzeit so weit?
Die Konservativen um Premierministerin Theresa May führen trotz des ernüchternden Wahlergebnisses vom Juni ihren Glaubensstreit um Europa weiter wie seit dreißig Jahren, nur dass es nicht mehr darum geht, ob man aus der EU austritt, sondern wie. Dem kleineren Lager um Finanzminister Philip Hammond, der einen weichen Brexit will mit möglichst enger Anbindung an den EU-Binnenmarkt und die Zollunion, stehen weiter die Hardliner gegenüber, die „Brextremisten“, die möglichst zügig raus wollen aus Europa – mit den Partnern auf dem Kontinent werde man schon irgendwie einen Modus finden. Hinter Hammond stehen die britischen Arbeitgeber, die nichts mehr fürchten als einen Austritt im März 2019 ohne Anschlussvereinbarungen mit Brüssel. Hinter den Brexitern um Austrittsminister David Davis, Außenminister Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove (eine schillernde Figur, die von May nach der Wahl wieder ins Kabinett berufen werden musste) aber steht die konservative Parteibasis, eine eher überschaubare Truppe von meist älteren Damen und Herren in meist hübschen und teuren Wohnlagen im Süden Englands, fern der schrillen Hauptstadt mit ihren vielen EU-Freunden und weitab von den weniger hübschen einstigen Industrierevieren im Norden mit ihren vielen Problemen.

May bleibt vorerst im Amt

Dass Davis, Johnson & Co. die Regierungschefin noch nicht gestürzt haben, um sich dieser Basis zu empfehlen, hat mehrere Gründe. Bei den Mitgliedern, die das letzte Wort bei der Wahl des Parteichefs haben, ist derzeit keiner von ihnen klarer Favorit. Die geschwächte May ist zudem abhängig von ihnen und damit offener für ihre Forderungen als vor der Wahl. Und ein Wechsel an der Spitze, kaum dass die Verhandlungen mit Brüssel begonnen haben, käme zum falschen Zeitpunkt. Es braucht ein bisschen mehr Krise, um den Zustand zu schaffen, einen der Hardliner ans Ruder zu bringen. Eine Verhärtung in den Gesprächen mit den EU-Partnern dürfte daher der bessere Zeitpunkt sein, und für Verhärtungen werden die Brexiter selber sorgen. Bis dahin darf May im Amt bleiben.
Vorerst geben sich die im Unterhaus tief gespaltenen Konservativen sogar ein bisschen einmütig – das Kabinett verständigte sich darauf, dass es zwischen dem offiziellen Austritt im März 2019 und einem neuen Handelsabkommen mit der EU eine Übergangsphase geben müsse. Der Streit geht allenfalls darum, ob es nur einige Monate sein sollen (so der größte Brexit-Träumer im Kabinett, Handelsminister Liam Fox) oder mehrere Jahre (Hammonds Position). Dass ein Abkommen, das die feste Einbindung Großbritanniens in den Binnenmarkt samt Zollunion ablösen soll, nicht bis 2019 abgeschlossen werden kann, der Penny ist auch bei den Tories mittlerweile gefallen.

Corbyn gegen eigene Schattenminister

In der Labour Party geht es derweil fast noch munterer zu als bei den Konservativen. Während Brexit-Schattenminister Keir Starmer und die führende Außenpolitikerin Emily Thornberry darüber räsonieren, wie man nach dem EU-Austritt weiterhin Binnenmarktmitglied bleiben und der EU-Zollunion angehören kann, hat Parteichef Jeremy Corbyn verlauten lassen, dass Brexit aus seiner Sicht bedeutet, weder im Binnenmarkt noch in der Zollunion zu bleiben. Damit hat Corbyn, als Linksaußen seit jeher ein strammer EU-Skeptiker, die Mehrheitsposition innerhalb der Konservativen praktisch übernommen. Auch wenn die Gründe sich unterscheiden: Die Tory-Brexiter träumen von einer global orientierten Freihandelsnation, während der Labour-Chef und sein Schatten-Finanzminister John McDonnell eher einem linken Protektionismus huldigen. Der steckt auch hinter der Aussage des Schatten-Handelsministers Barry Gardiner, wonach eine weitere Einbindung in die EU-Zollunion „ein Desaster“ wäre. Denn London müsste dann EU-Freihandelsabkommen mit Drittstaaten übernehmen, die den britischen Markt in unwillkommener Weise öffnen könnten. So will auch Labour in der Handelspolitik die Kontrolle zurück. Zu der Möglichkeit, dass Großbritannien einen ähnlichen Status gegenüber der EU bekommen könnte wie Norwegen (das als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums eng in den Binnenmarkt integriert ist), sagte Gardiner, man werde dann zu einem „Vasallenstaat“, der in den EU-Haushalt einzahle, aber nichts zu melden habe bei den Entscheidungen über die Binnenmarktregeln. Das ist in der Grundaussage zwar richtig, aber die Wortwahl ist bemerkenswert – zumal Oslo durchaus informelle Mitsprache in Brüssel hat.

Gemeinsam gegen offene Grenzen zur EU

Labour-Linke und die Tory-Rechte kommen auch in einem Punkt zusammen, der vielen Briten, nicht zuletzt in der Arbeiterschaft, wichtig ist: Kontrolle über die Einwanderungspolitik, ein Ende der EU-Freizügigkeit. Vor allem die Zuwanderung aus Osteuropa, voran aus Polen, war ausschlaggebend für die hohen Brexit-Voten gerade in Labour-Hochburgen in der Mitte und im Norden Englands. Da Corbyn damit kalkuliert, dass es angesichts großer Differenzen bei den Konservativen im kommenden Jahr nochmals zu Neuwahlen kommt, will er auch hier gar nicht in klare Opposition zu May und ihren Tories treten. Der frühere Labour-Politiker Michael Dugher twitterte, er wisse nicht, welche Haltung seine Partei habe und fügte ironisch hinzu: „kreative Mehrdeutigkeit?“

So sind die beiden großen Parteien in Großbritannien derzeit in den Händen der europapolitisch radikalen Flügel. Die moderate Mitte, bei Labour stärker, bei den Tories schwächer, ist zwar in der Sache eins, aber parteipolitisch getrennt – und mangels starker Integrationsfiguren ohne Aussicht, im Unterhaus eine parteiübergreifende Gegenbewegung für einen weicheren Brexit zu starten, der sich an einem klaren Modell orientieren würde (etwa Norwegen). Die führenden Köpfe bei Konservativen und Labour scheinen dagegen auch ein Jahr nach dem Referendum keine wirklich klaren Vorstellungen zu haben, wie das Verhältnis Großbritanniens zur EU gestaltet werden soll. Fast komisch wirkte die Antwort der Labour-Wirtschaftspolitikerin Rebecca Long-Bailey auf die Frage, was denn die Verhandlungslinie ihrer Partei wäre: „We want our cake and have it“, sagte sie. Diesen Spruch nutzt auch Außenminister Johnson gern, um deutlich zu machen, dass man nach dem Austritt die Vorteile der EU gern behalten möchte, ohne aber angebliche Nachteile wie die Freizügigkeit zu akzeptieren. Eine merkwürdige Koalition der Rosinenpicker formiert sich da.

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