"Die Liste" von Banu Cennetoglu: Künstlerin dokumentiert das Sterben von 33.293 Geflüchteten
Namen, Schicksale, Tote – die Liste der toten Geflüchteten auf dem Weg nach oder in Europa ist auch eine Anforderung an gutes Regieren. Ein Kommentar.
Was für ein Tag! Wir nennen den 9. November einen Schicksalstag der Deutschen, wegen all dessen, was damit in der deutschen Geschichte verbunden ist. Die Novemberrevolution 1918 mit der Ausrufung einer deutschen Republik, der Hitler-Ludendorff- Putsch 1923, der Beginn der Novemberpogrome 1938, der Tag des Mauerfalls 1989. Im Schlechten wie im Guten, ach was, im Schlechtesten wie im Besten. Und immer wieder dieses Wunder nach nur einem Wimpernschlag in den Läufen der Zeit: die Wiedervereinigung. Ein Geschenk, nach allem was war. Aber eben auch eine Verpflichtung, diesem Geschenk der Geschichte stets aufs Neue gerecht zu werden.
Das ist darum der richtige Tag: "The List", die Liste, soll uns heute wie schon angekündigt begleiten. Es geht um Geflüchtete, aufgelistet, als Versuch, zehntausende Tote als menschliche Wesen kenntlich zu machen, mit einer Herkunft, einer Vergangenheit, einem Leben.
Uns begleiten, das heißt: unser Blatt, das auch, aber noch mehr alle die Menschen, die sich hierzulande freuen, wie es für uns vor 28 Jahren gekommen ist, friedlich, glücklich. Gerade an diesem Tag wollen wir eben nicht vergessen, dass nicht jeder diese Chancen hat, die wir Deutsche haben. Außerhalb unserer Grenzen gibt es Millionen Menschen, die in entgrenzten Zeiten leben müssen. Die in ihrem Land vor Terror fliehen, die aus ihrem Land fliehen vor Hunger, vor Dürre, vor Bomben.
Es ist für viele ein bloßes Da-Sein
Wobei: Leben ist wahrscheinlich das falsche Wort. Überleben klingt schon richtiger. Viele werden nicht mehr von einem Leben sprechen oder schreiben. Es ist für viele ein bloßes Da-Sein, Noch- nicht-weg-Sein, eines im täglichen Kampf ums Allernötigste, von allem anderen abgesehen, von Freude, Liebe, Glück. Wo ein Obdach fehlt, Essen, medizinische Hilfe, wo Familienangehörige im Kugelhagel sterben und Freunde nicht mehr wiederkehren – da wächst ein Gefühl der Ohnmacht. Und es reicht ein einziger Aufschrei: Syrien!
Der Hallraum nur schon dieses einen Wortes ist enorm. Sofort fluten Bilder unser Gedächtnis. Blutüberströmte Frauen, Kinder, Männer. Kinder, die auf der Flucht tot ans Ufer geschwemmt werden, weil niemand sie in den Fluten des Mittelmeers halten konnte. Ja, und darin liegt ein Grund, warum wir, der Tagesspiegel, mit dem Gorki-Theater die Liste der toten Flüchtlinge, der auf der Flucht Gestorbenen, veröffentlichen. Wir wollen sie ehren, einerseits, und zugleich deutlich machen, dass jede Zeile auch eine Geschichte erzählt. Auf die müssen wir uns, gerade wir Deutsche mit unserer Geschichte, einlassen, um für die Zukunft und in der Zukunft richtig zu handeln. Denn: Die Liste wächst, Tag um Tag.
Es geht nicht um Wiedergutmachung, sondern ums Gutmachen
Womit wir bei der Politik wären, der ganz aktuellen. In entgrenzten Zeiten darf es für alle, in Sonderheit für die, die vorgeben, Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes betreiben zu wollen, nicht einfach sein, der Humanität eine Obergrenze zu ziehen. Gewiss nicht zu einfach gemacht werden, zerrissenen Familien, die zueinanderstreben, den Weg zu erschweren.
Das, was geschieht, ist wieder einmal gesellschaftlich umwälzend, in Deutschland, aber noch viel weiter darüber hinaus. Da ist diese Liste wie eine Anforderung an gutes Regieren. Es geht nicht um Wiedergutmachung, sondern ums Gutmachen. „The List“ soll eine Herausforderung für alle sein, die dem, was die Auflistung kategorial bedeutet, widersprechen wollen. Und wer, wenn nicht der Tagesspiegel, in dessen DNA die Hinwendung zu Zufluchtsuchenden eingraviert ist, der mit geflüchteten Journalisten zusammenarbeitet, muss dem Raum geben?
Die Liste als PDF
Es ist ein öffentlicher Raum. Zu dem die Litfaßsäulen des Maxim-Gorki-Theaters passen, eines Theaters, mit dem wir uns in dieser Sache verbunden haben, verbunden fühlen. Dank der türkischen Künstlerin Banu Cennetoglu, die am zentralen Gebäude der „Documenta“ in Kassel den Satz angebracht hatte: „Being safe is scary.“ In diesen Zeiten sollte sich keiner zu sicher fühlen.
Die gesamte Liste finden Sie hier als PDF-Download.