Die Taliban erobern Afghanistan: Was bleibt, sind Scham und Zorn
20 Jahre nach 9/11 und der Intervention in Afghanistan muss gefragt werden: Haben die Terroristen ihre Ziele erreicht? War alles umsonst? Ein Kommentar.
Die Stunde der Bescheidwisser ist gekommen. Sie sagen: Ein falscher Krieg kann eben nicht gut enden. Mag sein. Doch kaum jemand hat kommen sehen, dass in Afghanistan eine Armee, die nominell aus 300.000 Soldaten besteht, die über viele Jahre von einer hochmodernen Militärallianz ausgebildet worden waren, ausgestattet mit hochmodernen Waffen, innerhalb weniger Stunden kampflos vor einer Rebellentruppe kapituliert, die auf Pick-up-Trucks mit Kalaschnikows in die Provinzstädte fährt.
Ist eine größere Blamage sämtlicher Geheimdienste, Militärs und Außenministerien vorstellbar? Knapp zwanzig Jahre dauerte die Intervention. Das Land und seine Menschen verstanden hat offenbar keiner.
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Der Vorwurf trifft in erster Linie die Regierung um US-Präsident Joe Biden. Der Demokrat war gegen Donald Trump mit der Behauptung angetreten, durch seine Zeit als Senator und Vizepräsident verfüge er über jahrzehntelange außen- und sicherheitspolitische Erfahrung.
In wenigen Wochen, am 11. September, zum 20. Jahrestag der Terroranschläge, wollte Biden alle US-Soldaten heimgeholt und die Mission für beendet erklärt haben. Aus diesem Traum ist ein Alptraum geworden. Wer die Gesichter der Leidtragenden sieht und von ihren Ängsten hört, empfindet Scham und ohnmächtigen Zorn.
Demokratie und Menschenrechte exportieren?
So stellt sich, zwanzig Jahre nach Nine-Eleven, eine alte Frage mit neuer Dringlichkeit: Haben die Terroristen ihre Ziele erreicht? Afghanistan galt ja als der gute Krieg, der richtige und notwendige. Die Taliban entmachten, Al Qaida vertreiben, Demokratie und Menschenrechte exportieren – davon ist kaum etwas geblieben. Die Terroristen zogen einfach weiter, in den Jemen, nach Somalia, Syrien, Mali, Libyen, Pakistan, Niger. Osama bin Laden ist tot, seine Erben sind flexibler und mobiler als jede Armee.
Auch als Demokratisierungsbeschleuniger hat der Afghanistankrieg nicht getaugt. Der von Amerikas Neokonservativen gepredigte Geschichtsidealismus, demzufolge Werte wie Freiheit und Gleichheit ansteckend und exportierfähig seien, wurde widerlegt.
Geblieben von Amerikas Kampf gegen „das Böse“ sind Guantanamo, eine riesige Heimatschutzbehörde, allumfassende Geheimdienste, eingeschränkte Bürgerrechte, die Erinnerungen an den Folterskandal im Gefängnis Abu Ghraib und an transatlantische Zerwürfnisse über den Irakkrieg.
All das kommt nun wieder hoch. Zu innig ist die Aufarbeitung des Afghanistandebakels mit dem 11. September 2001 verbunden, als dass sich die Bilanz einzig um die akute Abzugsschmach drehen darf.
Joe Biden setzt Amerikas Verbündete unter Druck
Das Trauma der einen wird verstärkt durch den Triumph der anderen. Die Taliban im Präsidentenpalast in Kabul: Dieses Bild kratzt stark an der Autorität Joe Bidens. Er ist der Präsident seines Landes und Oberbefehlshaber der Armee. Er hat zu verantworten, was in diesen Tagen geschieht. Ist auf sein Wort noch Verlass? Ist seinem Urteil noch zu trauen?
Biden will das Atomabkommen mit dem Iran wiederbeleben, Härte zeigen gegenüber Russland und vor allem China. Er setzt Amerikas Verbündete unter Druck, ihm dabei zu folgen. Sollen sie? Womöglich ist der Vertrauensvorschuss, der ihm nach seinem Amtsantritt gegeben worden war, aufgebraucht. Es gibt Fehler in der internationalen Politik, deren Folgen so gravierend sind, dass ein rasches Vergeben und Vergessen unmöglich ist.
In Afghanistan sind Menschen gestorben, Zehntausende Zivilisten und Tausende Nato-Soldaten. Der Respekt vor diesen Menschen und ihren Angehörigen erschwert eine radikale Analyse der Fehler und Versäumnisse. Soll denn alles umsonst gewesen sein? Diese Debatte, so schmerzlich sie ist, muss geführt werden, behutsam, ohne Eifer. Demokratien sind lernfähig. Irrtümer können benannt und abgestellt werden. Auch das unterscheidet sie von islamistischen Emiraten.
Der „Westen“ habe versagt, heißt es jetzt oft. Der „Westen“ allerdings wäre nicht der „Westen“, wenn aus Versagen nicht Einsichten resultieren, durch die er reift.