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Nicht alles lief gut: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann
© dpa

Impfprobleme, Datenschutz, Lockdown-Strategie: Kretschmann fordert schonungslose Corona-Fehleranalyse

Der Druck ist enorm in der Pandemie. Grüne, FDP und Linke sind für eine Aufarbeitung von Versäumnissen – aber erstmal kommt die Lockdown-Verlängerung.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat vor den Bund-Länder-Entscheidungen über eine weitere Lockdown-Fortsetzung Fehler im Krisenmanagement eingeräumt.

„Der Lockdown light im November war falsch, die Einschränkungen gingen nicht weit genug“, sagt Kretschmann in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“. Die Politik müsse in der Pandemie unter großem Druck handeln. „Dabei passieren Fehler, das ist leider so.“

Zugleich betonte Kretschmann, die Politik sei nicht für die Lage verantwortlich. „Wir sind nur die Akteure, die im Kampf gegen die Pandemie harte Entscheidungen treffen müssen. Verantwortlich für die Krise ist das Virus.“

Bund und Länder steuern auf eine weitgehende Verlängerung des Lockdowns bis Ende Februar zu. Aber zum Beispiel Schulen und Kitas könnten mit Auflagen und Einschränkungen wieder öffnen, begleitet von Schnelltests. Auch eine schnellere Impfung von Lehrkräften und Erziehern wird diskutiert.

Kretschmann hält es mit Blick auf mögliche Lockerungen für notwendig, am besten die Neuinfektionen auf deutlich unter 50 Neuninfektionen je 100 000 Einwohner in sieben Tagen zu drücken, vor allem wegen sich beschleunigenden Verbreitung der weitaus ansteckenderen Virusmutation B117.

Es soll nun nicht der Fehler aus dem Herbst wiederholt werden, hieß es. Weil nicht schärfer reagiert wurde, gerieten zeitweise die Infektionen außer Kontrolle und die Todeszahlen stiegen auf über 1000 am Tag. „Erst wenn wir deutlich unter eine Inzidenz von 50 kommen – am besten auf die Hälfte davon – können wir gewährleisten, dass wir wieder alles im Griff haben“, sagte Kretschmann.

Kommt eine Corona-Kommission?

Er schlägt eine umfassende Fehleranalyse nach der Pandemie vor. „Wenn sie im Großen und Ganzen vorbei ist, würde ich dem Bundestag empfehlen, umgehend eine Enquete-Kommission einzusetzen, gerne auch schon im Frühsommer.“ Eine Frage sei dabei auch, ob man nicht den Datenschutz hätte weniger stark gewichten sollen.

„Ich finde, wir brauchen eine Debatte darüber, ob wir nicht auch hier im Falle einer Pandemie gewisse Einschränkungen in Kauf nehmen müssten. Schauen Sie doch mal nach Taiwan oder Südkorea.“ Dort werde mit einer Hightech Warn-App effizient getestet, nachverfolgt und isoliert. „Die Regierungen mussten lange nicht so stark in die Lebensverhältnisse eingreifen wie wir in Europa.“

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Auch FDP-Chef Christian Lindner fordert schon länger eine solche Enquete-Kommission, es gehe da nicht um Anklage, sondern um gemeinsame Aufarbeitung. Jetzt müsse es aber erstmal um einen Plan gehen, „unter welchen Bedingungen welche Bereiche wieder hochgefahren werden“, sagte Lindner dem Tagesspiegel.  

„Wir haben längst nicht alle technischen und logistischen Möglichkeiten ausgeschöpft, um Gesundheitsschutz und Freiheit besser auszubalancieren.“

Kennen und schätzen sich schon lange, hier bei einem Treffen 2013: Winfried Kretschmann und Angela Merkel
Kennen und schätzen sich schon lange, hier bei einem Treffen 2013: Winfried Kretschmann und Angela Merkel
© IMAGO

 "Das hängt uns jetzt in den Kleidern"

Mit Blick auf die Impfprobleme habe es ebenfalls Fehler gegeben, betonte Kretschmann, während Kanzlerin Angela Merkel meint, „im Großen und Ganzen“ sei hier nichts schiefgelaufen.

„Die EU hat sich offenbar nicht hinreichend auf die Anforderung einer Massenproduktion konzentriert. Das hängt uns jetzt in den Kleidern."

Tatsache sei, „dass wir durch keinerlei Maßnahmen im ersten Quartal den Mangel an Impfstoff beseitigen können. Da fehlt es derzeit schlicht noch an Produktionskapazitäten“.

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte dem Tagesspiegel: „Eine ehrliche Fehleranalyse ist überfällig“. Die Akzeptanz für die Maßnahmen schwinde. „Es muss alles getan werden, um die Impfstoffproduktion hochzufahren und das Impfdesaster zu beenden.“ Das gehe über Lizenzweitergaben und Anreize für die Produktionsunternehmen. „Jeden Tag, den das nicht passiert, bedeutet länger mit Corona-Maßnahmen leben zu müssen.“

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Hauptkritikpunkte – auch innerhalb der Bundesregierung –  lauten, dass die EU-Kommission nicht früher und mehr bestellt, und sich neben der Forschungsförderung zu wenig um eine frühzeitige Massenproduktion gekümmert habe. Merkel verweist unter anderem auf die komplizierten Herstellungsprozesse, gerade in der Anfangsphase und schwierige Haftungsfragen, die für 27 EU-Staaten geklärt werden mussten, falls die eingesetzten Impfstoffe Schäden anrichten.

Stoff der Hoffnung: Der Biontech/Pfizer-Impfstoff
Stoff der Hoffnung: Der Biontech/Pfizer-Impfstoff
© AFP

Biontech will Produktion ausbauen

Nun wird versucht, rasch neue Fertigungsstätten zu unterstützen. Auch das Mainzer Unternehmen Biontech sagt nun, dass mehr Geld helfen würde, die Produktionskapazitäten des Impfstoffs auszubauen. „Im vergangenen Jahr hätte uns mehr Geld nicht geholfen, weil wir den Produktionsprozess im großen Maßstab erst sicher aufstellen mussten“, sagte Finanzvorstand Sierk Poetting dem „Spiegel“.

„Jetzt aber würde Geld helfen. Erst recht, wenn wir für nächstes Jahr eine Kapazität von drei Milliarden Dosen antizipieren sollen, wie es diese Woche bereits angefragt wurde.“ Es könnte eine dritte Impfdosis gegen mutierte Varianten des Virus notwendig werden, oder es könnten sich ganz neue Mutationen entwickeln. „Deswegen arbeiten wir daran, weitere Standorte auszubauen und neue Partner in unser Netzwerk zu nehmen.“

Die EU hatte erst im November bei Biontech bestellt, zunächst 300 Millionen Dosen. Nun wurde nachbestellt, in Marburg startet eine weitere Produktionsstätte.

Die Gretchenfrage, die aber bisher kaum seriös zu beantworten ist, da auch Einblicke in Verträge und Verhandlungsprozesse der EU-Kommission bisher fehlen, lautet: Hätte mit mehr Geld schneller mehr auch für die EU-Staaten produziert werden können und hätte dies relevante Auswirkungen auf die Dauer von Lockdown-Einschränkungen haben können?

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Auch in Großbritannien und Israel gibt es weiterhin starke Einschränkungen, es war immer klar, dass es die ersten Wochen große Knappheiten gibt. Allerdings wurden auch von Regierungsseite größere Erwartungen geweckt, es wurden auch Fehler in der Kommunikation gemacht, hinzu kommen die Ärgernisse mit den Hotlines und das monatelange bange Warten auf Klarheit bei den Impfterminen.

Laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat Biontech einen möglichen Finanzbedarf von bis zu 400 Millionen Euro für die Reservierung von Kapazitäten und Rohstoffen bis in das nächste Jahr hinein angemeldet. „Wir wollen für den Fall problematischer Mutationen oder notwendiger Auffrisch-Impfungen auch für 2022 ausreichend Kapazität für Deutschland, Europa und die Welt sichern.“

Kretschmann: "Vier können Kanzler"

Angesichts der unsicheren Lage wird auch der Bundestagswahlkampf stark von den Folgen der Pandemie geprägt sein – und vieles erstmal virtuell stattfinden. Bei der Frage, wer das Land am besten nach Merkel regieren sollte, hält Kretschmann einen grünen Kanzler nach der Bundestagswahl am 26. September für möglich, sieht aber auch in Armin Laschet und Markus Söder geeignete Nachfolger von Angela Merkel.

„Wir wollen selbst den Kanzler stellen", sagte Kretschmann dem Tagesspiegel. Angesprochen, wer am besten geeignet sei - Annalena Baerbock, Robert Habeck, Markus Söder oder Armin Laschet, antwortete Kretschmann:  "Alle vier können Kanzler." Hinsichtlich des CDU-Chefs und des CSU-Chefs ergänzte Kretschmann: "Dass sie es beide können, daran habe ich keinen Zweifel."

Habeck und Baerbock würden unter sich ausmachen, wer die Grünen in den Kampf um das Kanzleramt führt. "Wenn man lange und stabil auf dem zweiten Platz liegt, dann muss man auf Sieg spielen. Den Ehrgeiz sollte man haben. Das ist die Liturgie des politischen Geschäfts." Allerdings äußerte er deutliche Zweifel an einem Bündnis unter Einschluss der Linkspartei.

Unabhängig davon, wer sich am Ende durchsetze, meinte Kretschmann, dass Deutschland sich nach Angela Merkel zurücksehnen könnte. "Sie ist eine erfolgreiche Kanzlerin gewesen, die vor allem Krisen kann. Ihre unprätentiöse Art hat da immer gut dazu gepasst. Es hat sie ausgezeichnet, dass sie sehr rational an die Dinge rangeht und sich aus ideologischen Spuren raushält."

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