Gutachten im NSU-Prozess über Beate Zschäpe: Krankhaft abhängig - oder nur berechnend
Der von Beate Zschäpes Verteidigern bestellte Gutachter hält die Hauptangeklagte im NSU-Prozess für vermindert schuldfähig. Eine Beurteilung, die große Zweifel aufwirft.
Er schlug ihr ins Gesicht, er würgte sie, er trat ihr in den Bauch und wie ein Karatekämpfer von hinten zwischen die Schultern. Mindestens sechsmal pro Jahr war Beate Zschäpe den Gewaltexzessen ihres Freundes Uwe Böhnhardt ausgesetzt und schaffte es doch nicht, den Schläger zu verlassen, weil sie ihn liebte. Was der Freiburger Psychiater Joachim Bauer am Mittwoch im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München aus den Gesprächen mit der Hauptangeklagten berichtete, klingt nach endlosem Horror, den Zschäpe in den fast 14 Jahren im Untergrund erdulden musste. Als sei die Frau nicht, wie die Bundesanwaltschaft es sieht, gleichberechtigte Mittäterin in der rechtsextremen Terrorzelle gewesen, die zehn Menschen tötete und Dutzende bei Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen verletzte – sondern selbst ein Opfer.
In hastigem Stakkato und mit viel Empathie für Zschäpe trug Bauer sein psychiatrisches Gutachten vor. Er fühlte sich sogar bei Zschäpes Hemmungen, ihm auch von sexueller Nötigung durch Böhnhardt zu berichten, an seine Gespräche mit traumatisierten muslimischen Frauen erinnert, die im bosnischen Bürgerkrieg vergewaltigt worden waren. Bauer betonte auch mehrmals, er habe Zschäpe unangenehme Details „aus der Nase ziehen“ müssen. Dass die Frau ihm übertriebene Geschichten aufgetischt haben könnte und ihn womöglich manipulieren wollte, glaubt der Freiburger Psychiater nicht.
Bauer sieht bei Zschäpe eine „pathologische, schwere, dependente Persönlichkeitsstörung“. Gemeint ist eine krankhafte seelische Abhängigkeit Zschäpes von Böhnhardt – und damit eine verminderte Schuldfähigkeit. Die in ihrer tristen Kindheit oft allein gelassene Zschäpe hat sich laut Bauer an Böhnhardt geklammert. Und sie soll mit ihm und Uwe Mundlos in den Untergrund gegangen sein, weil sie glaubte, nun könne Böhnhardt ihr nicht mehr entwischen. Doch für Bauer geriet Zschäpe in die „verschärfte Geiselhaft“ eines Mannes, der mordete und sie obendrein misshandelte. Die Angeklagte hörte ohne erkennbare Regung zu.
Das Gutachten ist eine bizarr anmutende Wegmarke
Das Gutachten ist in dem bald vier Jahre dauernden Prozess eine bizarr anmutende Wegmarke kurz vor dem Ende der Beweisaufnahme. Die Exploration Zschäpes hatten ihre zwei neuen Verteidiger Matthias Grasel und Hermann Borchert initiiert. Anlass war offenkundig das für Zschäpe negative Gutachten, das der vom Gericht bestellte Aachener Psychiater Henning Saß Anfang des Jahres erstellt hatte. Er bescheinigte der Angeklagten, ohne Einschränkungen schuldfähig zu sein. Es hätten sich „keine Hinweise für das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder eines Schwachsinnes ergeben“, schrieb Saß in seinem Gutachten.
Er hatte Zschäpe seit Beginn des Prozesses beobachtet, doch ein Gespräch verweigerte die Angeklagte. Dennoch hält Saß „antisoziale Züge“ in Zschäpes Charakter für wahrscheinlich. Er vermutet, die Frau habe mit Böhnhardt und Mundlos eine verschworene Gemeinschaft gebildet und den „politisch-ideologischen Begründungsrahmen“ für die Verbrechen des NSU „aus fremdenfeindlichem, rassistischem und nationalistischem Gedankengut“ akzeptiert. Saß will sogar die Notwendigkeit von Sicherungsverwahrung nach der Haft nicht ausschließen. Ein solches Gutachten wollten Zschäpes Verteidiger nicht unwidersprochen hinnehmen. So kam Bauer ins Spiel.
Der Freiburger Professor sprach von Ende Februar an bei sieben Treffen insgesamt 14 Stunden mit der Angeklagten. Abgesehen von den Details der Misshandlungen war das meiste, was Bauer jetzt vortrug, jedoch schon bekannt. Zschäpe selbst hatte in ihrer Ende 2015 begonnenen Einlassung angegeben, von den Morden und Sprengstoffanschlägen erst im Nachhinein erfahren und diese Verbrechen nicht gewollt zu haben. Sie erzählte auch von heftigen Konflikten mit Böhnhardt und Mundlos und erwähnte Handgreiflichkeiten. Dass Zschäpes Aussage glaubwürdig ist, erscheint allerdings zweifelhaft.
Urlaubsbekannte, die Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos unter falschen Namen auf Fehmarn kennenlernten, berichteten im Prozess von einem harmonischen Miteinander der drei. Ehemalige Nachbarn schilderten Zschäpe zudem als selbstbewusste Frau. Kein Zeuge sprach über blaue Flecken. Laut Bauer ging Zschäpe allerdings nicht aus dem Haus, wenn Böhnhardt sie so schwer geprügelt hatte, dass die Folgen unübersehbar waren. Oder sie deckte blaue Flecken ab.
Unabhängig von Bauers Interpretation hat sein Gutachten einen rechtlichen Makel. Der Psychiater nutzte die Aussage von Zschäpes Mutter gegenüber der Polizei. Im Prozess hatte Annerose Zschäpe im November 2013 jedoch Angaben verweigert und auch betont, ihre Aussage bei der Polizei dürfe nicht eingeführt werden. Davon erfuhr Bauer allerdings erst jetzt – vom Vorsitzenden Richter Manfred Götzl. Zschäpes neue Verteidiger hatten den Psychiater nicht informiert.