25 Jahre Afrika-Korrespondent: Kontinent der Extreme
Afrika hat zwei Seiten. Auf der einen stehen Lebenslust, Witz und Kreativität, auf der anderen Fatalismus, Brutalität und Gleichgültigkeit. Ein bilanzierender Essay nach 25 Jahren Arbeit als Afrikakorrespondent.
An einem strahlend klaren Wintertag im Mai 1994 donnerte das Elitegeschwader der südafrikanischen Luftwaffe im Tiefflug über die Hügel von Pretoria. Als die Maschinen den Regierungssitz oberhalb der Landeshauptstadt erreichten, wippten die (weißen) Piloten für einen kurzen Augenblick mit den Flügeln ihrer Kampfjets, um ihren dort gerade vereidigten neuen Oberbefehlshaber zu grüßen: Nelson Mandela. Die gleichen Piloten, die in den langen Jahren der Apartheid die Widerstandskämpfer seines Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) in den Nachbarstaaten bombardiert hatten, schworen dem ersten schwarzen Präsidenten von Südafrika nun ihre Treue und Loyalität.
Jedem, der das Manöver am Himmel über Pretoria verfolgte, war seine Bedeutung bewusst: Mehr als alles andere symbolisierten die zum Gruß geneigten Tragflächen den Moment, in dem die weiße Minderheit nach fast 350 Jahren Alleinherrschaft ihre Macht in schwarze Hände legte. Ich war nicht der einzige Besucher der historischen Zeremonie, dem Tränen in den Augen standen, als Nelson Mandela wenig später beim Abspielen der „Stem“, der Nationalhymne seiner Unterdrücker, in einem Zeichen tiefen Respekts die Hand auf seine Brust legte. In den 25 Jahren, die ich für den „Tagesspiegel“ aus Afrika berichtete, gab es viele anrührende Momente. Doch keiner reicht an den Tag heran, an dem Mandela nach 27 Jahren Haft als Staatschef vereidigt wurde – und die Rassentrennung am Kap offiziell zu Ende ging.
Vieles deutet in diesen Tagen darauf hin, dass die „Regenbogennation“, wie Kapstadts Erzbischof Desmond Tutu das neue Südafrika damals im Überschwang der Gefühle taufte, wie so viele andere afrikanische Staaten beim Aufbau seiner eigenen Demokratie scheitern wird. Der lange, schleichende Niedergang des einstigen Hoffnungsträgers hat sich unter dem von Korruptionsvorwürfen geplagten Präsidenten Jacob Zuma weiter beschleunigt. Unter ihm ist Südafrika zu einem Selbstbedienungsladen der schwarzen Machthaber geworden, in dem die Korruption floriert und die jungen Institutionen ausgehöhlt werden.
Längst ist die weltweite Bewunderung für die friedliche Überwindung der Apartheid und die von Mandela zunächst eingeschlagene Versöhnungspolitik tiefer Sorge über die Zukunft des einzigen Industriestaates in Afrika gewichen. Dennoch war es ein großartiges Privileg, ab 1985 zunächst als Student an der Universität von Kapstadt die Todeswehen der Apartheid miterleben und mit dem politischen Gezeitenwechsel ab 1990 den unerwartet friedlichen Übergang Südafrikas vom international geächteten Rassenstaat zur schwarzen Mehrheitsherrschaft journalistisch begleiten zu dürfen – eine der größten, schönsten und bewegendsten Geschichten in einem ansonsten sehr blutigen Jahrhundert.
Trostlos ist bis heute das Erscheinungsbild vieler Städte
Allerdings lernte ich bei meinen Reisen früh, dass Afrika ein Kontinent der Extreme ist – und wohl noch lange bleibt. Auf der einen Seite die unbändige Lebenslust seiner Menschen, ihre Kreativität in der Armut, der Alltagswitz, aber auch die betörende Schönheit der Landschaft. Auf der anderen Seite der oft kulturell bedingte Fatalismus, die Brutalität, der Dreck, aber auch die oft unglaubliche Schlampigkeit und Gleichgültigkeit vieler seiner Bewohner. Entsprechend trostlos ist bis heute das Erscheinungsbild vieler Städte und der (oft nicht vorhandenen) Infrastruktur.
Schon wegen dieses Doppellebens ist in Afrika nichts unmöglich – im guten wie im schlechten Sinne. Während sich Schwarz und Weiß in Südafrika 1994 in einem Akt „kollektiver Rationalität“, wie François Mitterrand es damals nannte, die Hand reichten, ereignete sich im Windschatten des vermeintlichen „Wunders“ im Herzen des Kontinents ein Völkermord, der alles in Afrika zuvor Gewesene übertraf: In nur 100 Tagen wurden kaum 2000 Kilometer weiter nördlich in Ruanda zwischen 800 000 und eine Million zumeist Tutsis auf oft bestialische Weise von der Hutu-Mehrheit massakriert, weil sich das dortige Hutu-Regime, anders als Südafrika, für seine eigene Form der „Endlösung“ entschieden hatte, um die ethnischen Rivalitäten ein für allemal zu beenden.
Es war der schnellste Völkermord der jüngeren Geschichte – ein Massenmord mit Macheten, Äxten und bloßen Händen, der erst mit dem Sieg der aus Uganda einmarschierten Tutsi-Rebellen unter ihrem Kommandeur Paul Kagame gestoppt werden konnte. Alle Versuche, das Unbegreifliche zu verstehen, sind bis heute vergeblich geblieben.
Die Ereignisse in Ruanda, aber auch andere Entwicklungen – wie der Amoklauf von Robert Mugabe in Simbabwe oder der im Tribalismus begründete Zerfall des Südsudans, Afrikas jüngstem Staat – liefern viel Anschauungsmaterial dafür, dass sich in der Politik Afrikas fast alles um die Macht dreht. Die Einstellung der Afrikaner zu ihr ist ganz direkt. Man will sie unverdünnt und nur für sich und den eigenen Stamm. Macht ist in Afrika oft nackt und hart wie Gestrüpp. Die wenig ermutigende Entwicklung auf dem Kontinent in den fast 60 Jahren seit der Unabhängigkeit der ersten Staaten ist ein Indiz dafür, dass eine Demokratie westlichen Zuschnitts mit ihren checks and balances die in Afrika noch ganz direkt ausgeübte, rohe Macht nicht leicht bändigen wird.
Vielleicht findet sich genau hier der Hauptgrund für die politische Stagnation des Kontinents, die wiederum seine wirtschaftliche Genesung so erschwert. Bezeichnend ist jedenfalls, dass die Hoffnungsträger wegen der vielen Rückschläge hier quasi im Jahrestakt wechseln. Galten 1980 die „Musterkolonien“ Elfenbeinküste, Kenia und Simbabwe als Trendsetter, waren es nach dem Ende des Kalten Krieges und der Apartheid Länder wie Sambia oder Südafrika, weil diese nach den ersten wirklich freien Wahlen nicht sofort wie andere im Chaos versanken. Im 21. Jahrhundert wurden dann Ghana, zeitweise sogar Mali und nach dem Ende der Militärherrschaft auch Nigeria als größte Volkswirtschaft des Kontinents zu Musterländern verklärt. Sie sind in den letzten zehn Jahren ausgerechnet von zwei Ländern abgelöst worden, die bei meinem Eintreffen auf dem Kontinent vor 30 Jahren noch als hoffnungslose Fälle galten: Neben dem vom Völkermord traumatisierten Ruanda wird ausgerechnet das frühere Hungerland Äthiopien wegen seiner zuletzt konstant hohen Wachstumsraten womöglich wieder einmal voreilig als neues Entwicklungsmodell gehypt.
Äthiopien ist ein Paradebeispiel für die neuen Hoffnungen
Seit der verheerenden Hungersnot in den Achtzigerjahren ist dort ein kleines Wunder geschehen: Nichts symbolisiert den Wirtschaftsaufschwung besser als die in nur drei Jahren für fast 500 Millionen Dollar aus dem Boden gestampfte und vor drei Monaten in Betrieb genommene Metro von Addis Abeba, dem Hauptsitz der Afrikanischen Union. Sie ist das erste städtische Nahverkehrssystem in Afrika südlich der Sahara (mit Ausnahme des Sonderfalls Südafrika) und zu 85 Prozent mit chinesischem Geld finanziert worden.
Äthiopien ist ein Paradebeispiel für die neuen Hoffnungen: Gelingt dem Kontinent jetzt endlich der Schritt zu dauerhaftem Wachstum jenseits der bloßen Rohstoffexporte und einem Anstieg der Lebensverhältnisse? Äthiopien ist mit einer Reihe gewaltiger Infrastrukturprojekte fast unbemerkt zum neuen Wachstumsstar avanciert. Seit der Jahrtausendwende wächst seine Volkswirtschaft zwischen 8 und 10 Prozent jährlich – mehr als irgendwo anders auf dem Kontinent.
Ein Prestigeprojekt der besonderen Art ist dabei der umgerechnet fast 4 Milliarden Euro teure Renaissance-Staudamm, den das Land seit knapp drei Jahren am wasserreichen Blauen Nil nahe der Grenze zum Sudan baut. Er soll Äthiopien nach seiner Fertigstellung 2018 zum größten Energieerzeuger in Afrika machen. Das Land selbst will das Wasser fast ausschließlich zur Stromgewinnung nutzen, um die Abhängigkeit von Rohölimporten zu reduzieren und Devisen zu erwirtschaften, mit denen der Umbau vom Agrar- zum Industriestaat finanziert werden soll.
Seit dem Sturz des brutalen kommunistischen Militärregimes 1991 folgt Äthiopien dabei wie auch Ruanda unter Paul Kagame strikt dem chinesischen Entwicklungsweg: So wenig Demokratie wie nötig, so viel Staatskapitalismus wie möglich. Das heißt aber auch, dass sich unter den 547 Parlamentariern inzwischen kein einziger Oppositioneller mehr befindet. Dabei hatte der äthiopische Premierminister Hailemariam Desalegn, der seit 2012 regiert, zu Beginn seiner Amtszeit versprochen, das politische System zumindest einen Spalt breit zu öffnen. Doch das Gegenteil ist geschehen. Der Fokus der Regierung liegt allein auf dem wirtschaftlichen Vorankommen. Wie Ruanda ist auch Äthiopien eine Entwicklungsdiktatur.
Afrika muss endlich mehr Verantwortung für die eigene Entwicklung übernehmen
In nur zehn Jahren ist der hinter Nigeria bevölkerungsreichste Staat des Kontinents (mit 92 Mio. Einwohnern) zur fünftgrößten Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika aufgestiegen – und dies obwohl es weiterhin zu den 15 ärmsten Ländern der Welt zählt. Doch bei allen Erfolgen hat Äthiopien mit Problemen zu kämpfen: Eigentumsrechte sind oft ungeklärt, was Investoren abhält. Und ohne ein schnelleres Wachstum seiner Industrieproduktion wird das Land kaum all die Arbeitskräfte absorbieren können, die im Zuge der mit Macht vorangetriebenen Modernisierung der Landwirtschaft aus dem Agrarsektor fallen, der seinerseits noch immer rund drei Viertel der Bevölkerung beschäftigt. Ausgerechnet der einstige Hungerstaat ist inzwischen zum Selbstversorger geworden und exportiert heute mehr Lebensmittel, als für die Ernährung der Bevölkerung importiert werden müssen – in Afrika eine kleine Sensation.
Während Südafrika unter dem Traditionalisten Zuma deindustrialisiert, wollen die Machthaber in Äthiopien ihr Land binnen weniger Jahre vom Agrarstaat in die Moderne katapultieren. Doch kann ein solcher Sprung gelingen? Razia Khan, Leiterin der Afrikaabteilung der Bank Standard Chartered, beschreibt die Struktur der äthiopischen Wirtschaft als stark „ausgehöhlt“. Dem Land fehle die Mittelklasse: Obwohl sich der Anteil der Äthiopier, die von mehr als 10 Dollar am Tag leben, zwischen 2004 und 2014 verzehnfacht hat, fallen noch immer kaum 2 Prozent der Gesamtbevölkerung in diese für eine Demokratie so wichtige Gruppe. Schon deshalb bleibt Äthiopien trotz aller Erfolge ein ambivalentes Entwicklungsmodell: Sollte die Regierung in Addis Abeba nicht bald politische Reformen und mehr Pluralismus zulassen, könnte sie die Chance verspielen, zu einem echten Vorbild für Afrika zu werden.
Das Gleiche gilt bei allen Fortschritten seit dem Völkermord auch für Ruanda: Hier hat die Bevölkerung in einem Referendum Mitte Dezember über eine Verfassungsänderung abgestimmt, die es dem amtierenden Staatschef Paul Kagame zumindest theoretisch erlauben würde, bis zum Jahr 2034 zu regieren.
Immerhin liefern beide Länder eine Fallstudie dafür, dass Afrika endlich mehr Verantwortung für die eigene Entwicklung übernimmt und nicht immer nur den Westen und den Kolonialismus für das eigene Versagen ins Feld führt. Natürlich hat dieser dazu beigetragen, dass Afrika es nie geschafft hat, auf eigenen Beinen zu stehen – und Europa deshalb in den nächsten Jahren weit mehr beschäftigen dürfte, als man in Brüssel oder Berlin wegen des falschen Afrikahypes der vergangenen Jahre derzeit glaubt. Und natürlich haben die Afrikaner psychologisch Schaden genommen, sodass es heute vielerorts auf dem Kontinent an Selbstvertrauen mangelt, woraus sich wiederum die antikolonialen Reflexe der jüngsten Vergangenheit und die Hinwendung zu China speisen.
Gleichwohl bleiben die meisten dieser Erkenntnisse einfache historische Schuldzuweisungen ohne wirkliche Handlungsanweisung für die Gegenwart. Sie wurzeln in einer Geisteshaltung – der Schwarze/Afrika als ewiges Opfer, der Weiße/der Westen als Täter –, die einer grundsätzlichen Neuausrichtung bedarf, wenn Subsahara-Afrika aus eigener Kraft genesen und nicht wie der Norden des Kontinents und der Nahe Osten zum Geschwür der neuen Weltordnung werden will. Weder höhere monetäre Transfers aus dem Norden noch eine von Bundeskanzlerin Angela Merkel nun erneut ins Spiel gebrachte Erhöhung der (weitgehend wirkungslos versickerten) Entwicklungshilfe wird die ganz überwiegend in der Kultur Afrikas angelegten Probleme des Kontinents lösen.
Leicht wird ein Neubeginn nicht werden
Dazu wäre vor allem ein radikaler Mentalitätswandel seiner selbstsüchtigen Eliten vonnöten, wie ihn der neu gewählte tansanische Präsident John Pombe Magufuli gerade vorexerziert: Er hat nicht nur die Zahl seiner Minister stark reduziert und seine eigene Redezeit im Parlament stark beschnitten, sondern nach einer Visite persönlich Betten für das größte Krankenhaus des Landes bestellt. Auch hat der neue Staatschef alle Auslandsreisen von Ministern und Beamten storniert und diese angewiesen, sich zunächst um die Probleme vor Ort zu kümmern.
Magufulis Vorgehen mag extrem erscheinen, aber es ist die Art von Populismus, die Afrika auf die Sprünge helfen könnte und die seine vielen bitterarmen Menschen verstehen. Erfolgreich wird das bisher nicht gefundene Modell einer eigenständigen Entwicklung für Afrika wohl erst dann werden, wenn aus der (nun zusätzlich von der Bevölkerungsexplosion geschürten) Krise des Kontinents ein echtes Problem – und Handlungsbewusstsein erwächst –, ein Sinn für das Gemeinwohl, der anders als bislang über die Familie, Volksgruppe und Hautfarbe hinausreicht und tief in der Gesellschaft verankert ist.
Nelson Mandela und seinem Gegenüber Frederik Willem de Klerk, dem letzten weißen Präsident Südafrikas, ist genau dies vor 20 Jahren gelungen: Entgegen allen düsteren Prognosen stellten sie das Wohl ihrer gemeinsamen Heimat über Rachsucht, Hass und Machtkalkül – und erkannten, dass Schwarz und Weiß in Südafrika entweder gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen würden. Leicht wird ein solcher Neubeginn für Afrika nicht werden. Es ist hier eher wie mit einer zweiten Ehe: Die Erfahrung spricht dagegen, dafür spricht allein die Hoffnung.
- Wolfgang Drechsler hat 25 Jahre lang als Afrikakorrespondent für den Tagesspiegel gearbeitet. Mit diesem Stück zieht er seine persönliche Bilanz.