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Die Parteivorsitzenden Horst Seehofer, Angela Merkel und Sigmar Gabriel im Dezember 2013.
© dpa/ Hannibal Hanschke

Vor der Bundestagswahl: Kommt im Herbst die Neuauflage der Großen Koalition?

Als "Gift für die Demokratie" gilt die große Koalition ihren Kritikern. Die Bürger aber lieben die Regierung der Volksparteien. Warum eigentlich?

Es war, als hätte jemand die Fenster des Reichstags weit aufgestoßen und frische Luft hereingelassen, die das Parlament aus einem Dämmerschlaf weckte. Vier Jahre lang hatten sich die kleinen Oppositionsparteien Grüne, Linke und FDP im Parlament mühselig und oft folgenlos am Machtblock von Union und SPD abgearbeitet, als im Herbst 2009 der Überraschungserfolg der Liberalen von fast 15 Prozent bei der Bundestagswahl der Republik eine schwarz-gelbe Koalition bescherte.

Davor war es im Parlament oft ziemlich langweilig gewesen. Doch der Fehlstart der liberal-konservativen Regierung trieb die Abgeordneten aus den Oppositionsbänken bald zu rhetorischen Höchstleistungen und bescherte den Zuschauern im Bundestag ein Ringen auf Augenhöhe, das viele in der Legislaturperiode zuvor vermisst hatten.

Wird auch die Wahl 2017 der demokratischen Streitkultur nach weiteren vier Jahren Herrschaft der beiden Volksparteien wieder eine Art Frischzellenkur bescheren? Oder werden die Kontrolleure der Macht erneut einer riesigen Regierungsmehrheit gegenüber stehen und sich mit wenig Redezeit und wenig Einfluss begnügen müssen?

Wahrscheinlichkeit einer schwarz-roten Fortsetzung ist hoch

Umfragen aus jüngster Zeit sehen die Union weit vorne, kommen aber sonst zu unterschiedlichen Ergebnissen: Manche Institute messen eine schwarz-gelbe Mehrheit, bei anderen ist die Wiederauflage der Elefantenhochzeit von CDU und CSU mit den Sozialdemokraten das einzig mögliche Zweierbündnis zur Regierungsbildung.

Die Wahrscheinlichkeit für eine Fortsetzung von Schwarz-Rot ist groß, zumal die Hürden für exotische, im Bund noch nie ausprobierte Dreierbündnisse wie Jamaika (Union, FDP, Grüne) oder Ampel (SPD, FDP, Grüne) momentan sehr hoch scheinen und ein rot-rot-grünes Bündnis keine eigene Mehrheit zustande brächte. Was die Frage aufwirft: Wann nutzen und wann schaden große Koalitionen der Demokratie?

Im ersten Befund steckt ein großer Widerspruch: Die Bürger lieben genau jene Konstellation, die alle Parteien hassen und über die sie im Wahlkampf am liebsten gar nicht sprechen, wenn sie denn nicht dazu gezwungen werden. In Umfragen küren Wähler die große Koalition regelmäßig zum beliebtesten Regierungsbündnis, jedenfalls dann, wenn ihnen Alternativen vorgelegt werden.

Nicht nur die Addition von Parteipräferenzen (die Anhänger beider großer Parteien freuen sich darüber, dass sie in der Regierung vertreten sind) erklärt diese Vorliebe. Nach den Krisen- und Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts sind die Deutschen immer noch auf der "Suche nach Sicherheit", wie der Historiker Eckart Conze in seiner gleichnamigen Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 schreibt. Und die verspricht am ehesten die Stabilität einer großen Koalition.

Andere Diagnostiker sehen hinter der ausgeprägten Konsensorientierung der Deutschen eine historische Tiefenströmung, die bis zu den Verwüstungen und der Verzweiflung des Dreißigjährigen Krieges zurückreicht. Dazu kommt: Eine Gesellschaft mit einer niedrigen Geburtenrate und vielen alten Menschen wie die deutsche scheut generell das Risiko.

Wie Anhänger gewinnen, wenn Programm von Kompromissen bestimmt ist?

Für die Parteien ist das im Wahlkampf eine Herausforderung: Wie soll man Anhänger für die eigenen Ziele gewinnen und begeistern, wenn das Programm dann nach der Wahl doch zur Unkenntlichkeit geschleift wird, weil Kompromisse mit einem großen Partner nötig sind? Wie kann man Unterschiede herausstellen und behaupten, mit den anderen werde alles ganz schrecklich, wenn man in Wirklichkeit bereit ist, mit den ganz Schrecklichen bald wieder vier Jahre lang gut zusammenzuarbeiten? Die kleineren Parteien versuchen, diese Unschärfe zu nutzen. So fordert etwa die Linkspartei von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz eine Erklärung, wonach er nach dem Herbst nicht in ein Kabinett Angela Merkel eintreten werde. Erst dann könne man ihm glauben, dass er keine große Koalition anstrebe.

Käme es nach der Bundestagswahl tatsächlich zur dann vierten großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik, wäre das auch für die Politikwissenschaft eine Herausforderung. Ihr gilt diese Konstellation bislang als ein "demokratietheoretischer Sonderfall" (Gerd Strohmeier), der nur in bestimmten Situationen möglich sein soll. Drei Voraussetzungen werden oft angeführt, warum es für die großen Parteien legitim sein kann, sich nicht im Parlament zu streiten, sondern gemeinsam zu regieren. Erstens: Eine andere Mehrheitsbildung ist nicht möglich (Notwendigkeit). Zweitens: Aufgaben müssen bewältigt werden, die nur eine große oder gar verfassungsändernde Mehrheit schultern kann (Legitimation von Zumutungen). Drittens: Als Reaktion auf große innenpolitische oder außenpolitische Krisen ist eine gemeinsame Abwehrleistung nötig (Selbstbehauptung).

Eine Versuchung der Macht

Die erste große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) der Jahre 1966 bis 1969 lässt sich am ehesten in der zweiten Kategorie verorten. Sie sanierte den Haushalt, ordnete das öffentliche Finanzwesen neu und bekämpfte die ökonomische Stagnation durch die Einbindung vieler gesellschaftlicher Akteure ("konzertierte Aktion"). Für die Notstandsgesetze, die alliierte Eingriffsrechte ablösten, änderten Union und SPD das Grundgesetz, was ihr die erbitterte Gegnerschaft der linken Studenten von der "Außerparlamentarischen Opposition" (APO) eintrug. Dass große Koalitionen der Versuchung der Macht erliegen können, zeigte ihr Plan zur Einführung des Mehrheitswahlrechts, der dann doch an der SPD scheiterte.

Die zweite große Koalition (2005 bis 2009), angeführt von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), passt eigentlich in keine der drei Kategorien, denn eine andere Mehrheitsbildung wäre möglich gewesen, wenn sich FDP und Grüne nicht Bündnissen verweigert hätten. Dass sich Merkel, ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und das gesamte Kabinett dann in der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 bewähren würden, war bei Bildung der Regierung noch nicht absehbar.

Auch das Kabinett Merkel III (seit 2013) musste und muss Großkrisen meistern – doch die waren und sind vor allem außenpolitischer Natur und brachen erst im Lauf der Legislaturperiode über die Akteure herein – mit dem russischen Überfall auf die Krim, dem Vormarsch des IS, der Wahl von Donald Trump und dem Brexit. Der Umgang mit den Flüchtlingen allerdings forderte und fordert sowohl außen- wie innenpolitischen Einsatz.

Die erste große Koalition: Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU, links) und Außenminister Willy Brandt (SPD).
Die erste große Koalition: Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU, links) und Außenminister Willy Brandt (SPD).
© picture-alliance / dpa

Ist die große Koalition Gift für die Demokratie?

Ein zentrales Argument gegen große Koalitionen lautet: Sie stärken die politischen Ränder. Tatsächlich fuhr etwa die NPD während der ersten großen Koalition in Ländern zweistellige Erfolge ein, aber sie scheiterte 1969 trotz großen Aufwands am Einzug in den Bundestag. Auch die gegenwärtig massivste Veränderung des Parteiensystems, der Aufstieg der AfD, dürfte sich kaum allein mit der großen Koalition erklären lassen.

Vielmehr reagierten die Wähler in der Flüchtlingskrise seit dem Herbst 2015 darauf, dass nicht nur die Parteien der großen Koalition, sondern auch alle Bundestagsfraktionen im Prinzip die anfängliche Öffnungslinie Merkels mittrugen – oder gar für nicht weit genug gehend erklärten: Wer anderer Meinung war, hatte abgesehen von einigen CSU-Abgeordneten keinen Vertreter im Parlament. Zudem scheint der AfD-Erfolg an die Flüchtlingszahlen gekoppelt: Seit die zurückgehen, sinken auch ihre Balkendiagramme in den Umfragen.

Trotzdem bleibt richtig: Es stärkt die Demokratie, wenn zentrale Auseinandersetzungen in der Mitte stattfinden. Zu spüren war das etwa in der anfänglichen Aufschwungsphase der SPD nach der Ausrufung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten Anfang des Jahres. Der Druck auf Merkel, die Möglichkeit eines Wechsels belebte die politische Landschaft. Plötzlich wurden neue, harte Fragen an die Kanzlerin und die Union gestellt. Es brach ein spannender Wettbewerb aus, der aber nur so lange anhielt, bis die Zahlen der SPD wieder einbrachen. Das Ende des Schulz-Hypes hatte die SPD selbst zu verantworten. Wochenlang weigerte sich ihr Spitzenkandidat, sich inhaltlich festzulegen und damit die Unterschiede zur Union deutlich zu machen.

"Demokratie wird durch Große Koalition keinen Schaden nehmen"

Glaubt man den Kritikern großer Koalitionen, so schaden sie der Demokratie umso mehr, je länger sie ihre Macht ausüben. Eine große Koalition sei "Gift für die Demokratie, denn sie ruft bei den Wählern Ohnmachtsgefühle und Fatalismus hervor", urteilte Allensbach- Chefin Renate Köcher im Jahr 2006. Denn die Demokratie lebe vom Wettbewerb der Ideen und Konzepte, von der Überzeugung der Wähler, wirklich eine Wahl zu haben und mit ihrer Stimme über die Zukunft mit zu entscheiden.

Auch der Chemnitzer Politikwissenschaftler Gerd Strohmeier ist der Meinung, es sei "grundsätzlich negativ zu bewerten", dass große Koalitionen Machtwechsel einschränkten oder verhinderten. Damit werde das "Lebenselixier demokratischer Regierungsweise" vernichtet – erst recht, wenn große Koalitionen fortgesetzt würden.

Allerdings scheinen die Befürchtungen von Köcher mit dem Abstand von etlichen Jahren doch übertrieben. "Die Demokratie würde durch eine Neuauflage der großen Koalition keinen Schaden nehmen", sagt dazu der Politikwissenschaftler Christian Schweiger. "Deutschland ist ohnehin im Gegensatz zu vielen anderen Ländern eine Konsensdemokratie, in der möglichst viele Kräfte in politische Entscheidungen eingebunden werden." Allerdings ist Schweiger auch davon überzeugt, dass zumindest die Gefahr besteht, dass ein Kabinett Merkel IV mit Union und SPD die politischen Ränder stärkt.

Während die Frage nach der Demokratietauglichkeit der großen Koalition umstritten bleibt, sind sich die meisten Beobachter in einer Erwartung einig: Sollte die SPD sich als kleinerer Partner nach der Wahl dazu entscheiden, unter Angela Merkel weiter zu regieren, würde das die Partei in eine Krise stürzen, die an die jahrelange Selbstzerfleischung der Sozialdemokraten um die „Agenda 2010“ erinnern dürfte. Wohl auch deshalb warnt Parteivize Ralf Stegner mit Verve davor, im Wahlkampf über eine Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition auch nur zu spekulieren: Dann, so meint er, "können wir auch gleich eine Klinikpackung Schlaftabletten verteilen".

Der Text erschien zuerst in der Tagesspiegel-Beilage "Agenda".

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