Ampel-Koalition könnte Einstieg ermöglichen: Kommt es doch noch zu einer Bürgerversicherung?
Eine Ampelkoalition würde SPD und Grünen die Chance eröffnen, doch noch eine Bürgerversicherung auf den Weg zu bringen. Wie wichtig ist ihnen das Projekt?
Schon seit langem steht das Projekt einer sogenannten Bürgerversicherung im politischen Raum. Doch von wegen Ladenhüter: Laut einer aktuellen Infratest-Umfrage wünschen sich 69 Prozent der Bürger einen solchen Umbau des Krankenversicherungssystems. Und von der Partei-Arithmetik her könnte es nach der Bundestagswahl tatsächlich ernst werden mit dem von SPD, Grünen und Linkspartei angestrebten Projekt. Zu den wahrscheinlichsten Koalitionsoptionen gehört nämlich nach aktuellen Umfragen eine Ampel. Darin befänden sich dann gleich zwei, wahrscheinlich sogar dominierende Parteien, die das Bürgerversicherungskonzept befürworten - und nur noch ein kleinerer Mehrheitsbeschaffer, der es ablehnt.
Stellt sich die Frage, wie wichtig SPD und Grünen der beständig propagierte Systemumbau wäre, um ihn in Koalitionsverhandlungen gegen eine bockende FDP durchzusetzen? Lägen den Sozialdemokraten ein höherer Mindestlohn oder andere sozialpolitische Reformen im Zweifel nicht doch stärker am Herzen? Und ginge es den Grünen nicht zuallererst um möglichst viel Entgegenkommen beim Thema Klimaschutz? Andererseits: Ließe sich die FDP nicht vielleicht auch zu einem Einstieg in die ungeliebte Bürgerversicherung überreden, wenn sich dadurch noch ungeliebtere Steuerhöhungen abwenden ließen?
SPD-Fraktionsvize: Kompromiss nicht unmöglich
Umweltthemen und Klimaschutz gut und schön, sagt Maria Klein-Schmeink, die gesundheitspolitische Sprecherin und Vize-Fraktionsvorsitzende der Grünen. Doch bei einer Ampelkoalition wäre für sie und ihre Partei auch soziale Gerechtigkeit ein „sehr wichtiges Thema“. Im Gesundheitssystem gelte es auf eine Lücke von 20 Milliarden Euro zu reagieren, die sich spätestens im Jahr 2023 auftun werde. „Dass wir das nicht mit Leistungskürzungen wuppen können und wollen, ist klar.“ Die Antwort auf das Defizit müsse eine neue und gerechtere Finanzierung sein. Gleichzeitig gelte es Leistungslücken zu schließen, in der gesetzlichen wie in der privaten Krankenversicherung.
Wie weit geht da die Kompromissbereitschaft? Bei der SPD bittet die zuständige Fraktionsexpertin Bärbel Bas um Verständnis, dass sie darüber nicht spekulieren wolle, „bevor nicht klar ist, ob und mit wem wir sprechen können“. Im nächsten Satz tut sie es dann aber doch. Die SPD-Forderung nach 12 Euro Mindestlohn ist aus ihrer Sicht „nicht verhandelbar“. Ein Kompromiss bei der Bürgerversicherung dagegen sei zwar „sicher schwierig, aber nicht unmöglich“, so die stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Bei beiden Themen gebe es „große Schnittmengen mit den Grünen“. Ob und wie man das Erwünschte in gemeinsame Politik umsetzen könne, hänge vom Wahlergebnis ab. Olaf Scholz hat die Bürgerversicherung im gestrigen Kandidaten-Triell als "Herzensthema" bezeichnet und zumindest einen "Einstieg" versprochen.
Grüne: Änderungen müssen nicht Knall auf Fall kommen
Mit der SPD werde man mit der Bürgerversicherung wohl kaum Probleme haben, meint auch Grünen-Expertin Klein-Schmeink – obwohl die Sozialdemokraten dazu in ihrem Wahlprogramm „erstaunlich vage“ geblieben seien. Und was den schwierigeren Partner betrifft? Es gehe ihr nicht darum, dass auf dem Paket am Ende tatsächlich der Name „Bürgerversicherung“ draufstehe, auf den Union und FDP so allergisch reagierten, sagt Klein-Schmeink. Von ihr aus könne das Ganze auch anders heißen. Und die Änderungen müssten auch nicht Knall auf Fall kommen.
Das klingt schon mal wie ein Lockangebot. Die Grünen hätten ein „Stufenkonzept“ vorgelegt, bei dem zunächst Verbesserungen für Versicherte und das Schließen von Versorgungslücken im Mittelpunkt stünden, betont die Fraktionsvize. So benötige man etwa eine bessere Absicherung von PKV-Mitgliedern mit niedrigem Einkommen, die im bisherigen System finanziell zunehmend überfordert seien und keine Wahlfreiheit hätten. Dabei handelt es sich oft um kleine Selbständige – also durchaus auch eine FDP-Klientel. Warum sollten die Liberalen diese Wähler im Stich lassen wollen?
Man werde sich dafür einsetzen, dass privat Versicherte ihre Altersrückstellungen zu anderen Unternehmen mitnehmen könnten, versprechen die Grünen. Und auch in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) sollten Privatversicherte jederzeit wechseln können. Man wolle „einen Spurwechsel zwischen dem privaten und gesetzlichen Zweig der Krankenversicherung ermöglichen“, heißt es in einem sehr ausführlichen Fraktionspapier: „Damit das klappt, ist ein Ausgleichssystem aufzubauen, durch das die Versicherten die individualisierbaren Bestandteile der Altersrückstellung in die gesetzliche Krankenversicherung mitnehmen können, wenn sie ein privates Krankenversicherungsunternehmen verlassen.“
Auch FDP will Wechsel zwischen Systemen vereinfachen
Den Wunsch nach mehr Wahlfreiheit äußern auch die Liberalen. „Wir Freie Demokraten wollen den Wechsel zwischen gesetzlicher (GKV) und privater (PKV) Krankenversicherung vereinfachen“, heißt es in deren Wahlprogramm. Allerdings klingen die FDP-Forderungen eher nach mehr Möglichkeiten in die andere Richtung: von der GKV zu den Privaten. Außerdem wollen die Liberalen offenbar eine Art Rosinenpickerei ermöglichen. „Wir stehen für ein solidarisches und duales Gesundheitssystem, in dem die Wahlfreiheit der Versicherten durch Krankenkassen- und Krankenversicherungsvielfalt gewährleistet ist. Dazu gehört neben einer starken privaten auch eine freiheitliche gesetzliche Krankenversicherung. Diese soll Versicherten- und Patienteninteressen in den Mittelpunkt rücken und Möglichkeiten bieten, aus verschiedenen Modellen zu wählen.“
Kompatibel oder nicht? Die Expertin der Grünen betont ausdrücklich, dass man die PKV weder abschaffen noch auch nur deren Geschäftsmodell verändern wolle. Vorgesehen sei in ihrem Wahlprogramm vielmehr „ein Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Anbietern“. Privatversicherte müssten dann zwar ihre Beiträge solidarisch nach Einkommen und nicht mehr nur tarifabhängig bezahlen – und Mieterträge oder Aktiengewinne würden ebenfalls verbeitragt. Aus dem Gesundheitsfonds erhielten PKV-Mitglieder dann aber auch wieder einen Zuschuss, mit dem sie ihre Prämien begleichen könnten.
Die langfristige Einbeziehung sämtlicher Einkommensarten sei nicht nur fair, argumentieren die Grünen. Sie trage auch dazu bei, die finanzielle Stabilität des Krankenversicherungssystems zu erhöhen und die „einseitige Belastung von Löhnen und Gehältern zu reduzieren“. Denn in Zukunft werde „die Bedeutung von Kapitalerträgen anwachsen und die von Löhnen und Gehältern sinken“. Dazu komme, dass sich Privatversicherer auch stärker an Investitionen ins Gesundheitssystem, wie etwa bei der Digitalisierung, zu beteiligen habe. Die FDP könne aber auch gerne andere Vorschläge machen, um die Einnahmesituation der solidarischen Krankenversicherung zu verbessern, so Klein-Schmeink.
Noch viele andere Reformbaustellen
Die eigentlichen Probleme des Gesundheitswesens lägen nicht im dualen Versicherungssystem, sondern ganz woanders, sagt FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann. Und er zählt auf: „Unter- und Überversorgung, Ineffektivität, zu viel stationäre Behandlung, überbordende Bürokratie, unzureichende Digitalisierung, immer weniger Patientenzuwendung…“ Politisch angegangen werden müsse beispielsweise dringend eine bessere Krankenhausfinanzierung und Notfallversorgung, die Überwindung von Sektorengrenzen, die Sicherung von Fachkräften.
So steht es auch im Wahlprogramm der FDP. „Wir wollen die künstliche Sektorenbarriere zwischen dem ambulanten und dem stationären Versorgungsbereich konsequent abbauen und die Verzahnung und Vernetzung aller Versorgungsbereiche weiterentwickeln“, heißt es darin. Gefordert wird „eine nachhaltige Verbesserung der Investitionsfinanzierung für maximalversorgende und kleinere spezialisierte Krankenhäuser“. Außerdem müsse höhere Qualität „durch das Vergütungssystem belohnt werden“. Fehlanreize für Überversorgung und ein Überangebot an Krankenhausleistungen seien zu bereinigen. „Eine Ungleichbehandlung von privaten, öffentlichen und konfessionellen Trägern lehnen wir genauso entschieden ab wie eine Planungshoheit der Krankenkassen für die Versorgungsstrukturen.“
Streit um Wartezeiten und Kommerzialisierung
Bei der Diagnose solcher Reform-Notwendigkeiten sehe er mit Grünen und SPD viele Gemeinsamkeiten, sagt Ullmann. Wenn es tatsächlich zu einer Ampelkoalition kommen sollte (die aus Sicht des FDP-Politikers sehr schwer zu verwirklichen wäre), müsse man diese Kernprobleme angehen und dürfe sich nicht „auf Nebenschauplätzen verzetteln“. Schließlich werde „nichts besser, wenn plötzlich nur noch alle bei der GKV sind“. Versorgungslücken für gesetzlich Versicherte könne er momentan jedenfalls weder als Arzt noch als Politiker erkennen. Für notwendige Behandlungen spiele der Versicherungsstatus in Deutschland keine Rolle, „und vielleicht sind wir hier in Deutschland bei den Wartezeiten auch ein bisschen verwöhnt“.
Das sehen die denkbaren Koalitionspartner anders – auch wenn die Sozialdemokraten anders als die Grünen in ihrem Programm erstaunlicherweise auf den üblichen Begriff der „Zwei-Klassen-Medizin“ verzichten und nur einen gleich guten Zugang zur medizinischen Versorgung „für alle“ verlangen. Bei der Forderung der Genossen allerdings, die „Kommerzialisierung im Gesundheitswesen“ zu beenden, weil sich diese negativ auf Patientenversorgung und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auswirke, reagieren FDP-Experten mit einer Mischung aus Erstaunen und Fassungslosigkeit.
Einheitsversicherung als „rote Linie“
Gegen Verbesserungen im PKV-System habe er ja nichts, stellt Ullmann klar. Wechselmöglichkeiten und die dazugehörige Mitnahme von Altersrückstellungen seien wichtig. Und man müsse auch die Frage stellen, warum trotz Versicherungspflicht nach wie vor so viele Menschen im Land keinen Versicherungsschutz haben. An finanziellen „Taschenspielertricks“ zulasten von PKV-Versicherten aber würden sich die Liberalen nicht beteiligen. „Und eine Einheitsversicherung wäre für uns ganz klar eine rote Linie“.
Allerdings habe er die Gesundheitsexperten von Grünen und SPD in der vergangenen Legislatur auch als „vernünftige Kolleginnen und Kollegen“ kennengelernt, sagt Ullmann. Deshalb rechne er nicht damit, „dass es ihnen nach der Wahl nur noch um Ideologie statt um Problemlösung geht“.