Laschet im Umfragetief: Wendet sich Lindner jetzt von der Union ab?
Lange galt Jamaika als aussichtsreichste Machtoption für die Liberalen. Doch jetzt wird ein Ampel-Bündnis realistischer. Für den FDP-Chef wäre es ein Wagnis.
In drei Wochen will FDP-Chef Christian Lindner Geschichte schreiben. Noch nie ist es den Liberalen gelungen, zweimal in Folge zweistellig in den Bundestag einzuziehen. Dieses Jahr könnte es klappen. Aktuell steht die FDP in den Umfragen zwischen elf und 13 Prozent, bei der Wahl vor vier Jahren erhielt sie 10,7 Prozent der Stimmen.
Mit der eigenen Stärke kommen aber auch die Probleme. Denn die FDP muss nun überlegen, wie sie ihr Wahlziel erreicht: einen Platz in der Regierung.
Lange galt dafür ein Jamaika-Bündnis mit Union und Grünen als aussichtsreichste Machtoption. Daran hält Lindner fest. „Die inhaltliche Unschärfe der Union ist überraschend, die Schwäche auch. Dennoch sehe ich dort weiter die größeren Chancen“, sagte er dem „Spiegel“. Der Unionskandidat Armin Laschet – ein Duzfreund Lindners – werde „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ Kanzler. Für ein Ampel-Bündnis mit SPD und Grünen, betont der FDP-Chef immer wieder, fehle ihm hingegen die Fantasie. Soweit die offizielle Sprachregelung.
Absetzbewegung von der Union
Lindner schätzt, dass 85 Prozent der eigenen Anhängerschaft ein Ampel-Bündnis nicht wollen. Doch die historische Schwäche der Union und der aktuelle Aufschwung der SPD bringen die FDP in Zugzwang. Die Freidemokraten müssen prüfen, ob sie als bürgerlich-liberales Korrektiv eine Ampel mitmachen würden.
Bei der FDP zeichnet sich deshalb so etwas wie eine feine, aber doch spürbare Absetzbewegung von der Union ab. So nannte Lindner in dieser Woche in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erstmals „Leitplanken“ für ein Ampel-Bündnis: vor allem keine Steuererhöhungen, kein Aufweichen der Schuldenbremse und keine bundesweite Mietenbremse. In der ZDF-Sendung „Maybrit Illner“ sagte er, dass „die Partei von Willy Brandt immer den Respekt der FDP“ haben werde.
Dass man mit SPD und Grünen auskommen kann, beweisen die Liberalen in Rheinland-Pfalz, wo sie im Mai ihr Bündnis mit den beiden Parteien erneuert haben. So viel Fantasie braucht es also gar nicht. Aber wie ist das im Bund, wo es so ein Bündnis noch nie gab?
Für Lindner wäre es zweifelsohne ein Wagnis. Seine Forderungen an SPD und Grüne in der Steuer- oder Wohnungspolitik sind schwierig aufzulösen. Beim Aussetzen der Schuldenbremse hat man sich in der Pandemie auf eine außerordentliche Notlage berufen. Ob das auch für 2022 noch einmal möglich wäre, muss sich zeigen.
Streitpunkt Steuern
Olaf Scholz hat zuvor die Schuldenbremse verteidigt und als Finanzminister eisern eingehalten, hier sind Lösungen sicher möglich. Schwieriger wird es bei den Steuern: Die SPD will eine gerechtere Verteilung der Lasten und mittlere und untere Einkommen entlasten. Im Gegenzug soll aber der Solidaritätszuschlag für die oberen zehn Prozent erhalten bleiben, die FDP will ihn abschaffen. Doch zumindest wäre das Beibehalten des Status Quo keine Steuererhöhung.
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Der schwierigste Punkt ist die von SPD und Grünen geplante stärkere Besteuerung von Vermögen. Die SPD will zudem für Großverdiener (ab 100 000 Euro Einkommen im Jahr) einen Aufschlag von drei Punkten auf 45 Prozent Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer. In der Gesellschafts- oder Klimapolitik wären die Hürden für eine Ampel wohl weniger groß.
Rot-Grün nur wenige Punkte von einer Mehrheit entfernt
Für Laschet sind die Annäherungen schlechte Nachrichten. Seine einzige absehbare Machtoption wäre ein Jamaika-Bündnis – sieht die Union aber immer mehr wie der Verlierer aus, drohen weitere Stimmenzuwächse für die anderen. Jetzt könnte auch der „Bandwagon-Effekt“ hinzukommen. So nennt man es in der Handlungstheorie, wenn sich immer mehr Unentschlossene dem vermeintlichen Gewinnern anschließen. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat schon vor Längerem klargemacht, dass sie am liebsten mit der SPD regieren will. Das könnte den Trend weg von der Union verstärken. Zwar ist eine rot-grüne Koalition wie 1998 nicht in Sicht, aber es fehlen nach derzeitigen Umfragen auch nur wenige Prozentpunkte.
Derzeit konzentriert sich vieles auf die Frage: Wem vertraue ich das Land an? Und da sind nach den Lacher-Fotos von Laschet im NRW-Flutgebiet die Werte des seriösen Regierungshandwerkers Scholz rasant gestiegen. Um Vertrauen geht es auch bei der Bildung von Koalitionen. Scholz gilt als Verhandlungsprofi, der schwierige Konflikte auflösen und auf seine Partner zugehen kann.
Letztlich müsste Scholz Angebote machen, die Lindner kaum ablehnen könnte. Weil die Abstimmung am 26. September immer mehr zur Scholz-Wahl wird, könnte er auch vom linken Flügel der eigenen Partei die nötige Beinfreiheit dafür erhalten. Er müsste aber Lindner zum Beispiel das strategisch wichtige Finanzministerium überlassen. Beide haben einen Draht zueinander, das könnte helfen, solche neuen Bündnisse sind nur bei Vertrauen der Protagonisten und Agieren auf Augenhöhe zu schmieden.
Im "Spiegel" machte Scholz jüngst deutlich, was der große Fehler 2017 beim Scheitern der Jamaika-Verhandlungen gewesen sei: „Nach meinem Eindruck haben Union und Grüne damals zu zweit verhandelt und gedacht, die FDP brauche nur noch zu unterschreiben. Das war nicht klug und kein Ausweis besonderer Regierungskunst.“
Dafür gibt es ein historisches Vorbild: die Bundestagswahl 1969. Noch am Wahlabend rief SPD-Kandidat Willy Brandt, der auf Platz zwei hinter der Union lag, bei FDP-Chef Walter Scheel an. Dieser schrieb in einem Rückblick über den Wahlabend. „Die ersten Ergebnisse liefen ein. Sie waren für mich entsetzlich enttäuschend. Dann die langen Stunden der Ungewissheit. Nixon hatte Kiesinger schon zu seinem Wahlsieg gratuliert. Dann endlich: SPD und FDP hatten zusammen die – wenn auch knappe – Mehrheit erreicht. Mit wenigen Mitarbeitern sass ich in meinem Haus auf dem Venusberg, als der Anruf von Brandt kam. „Ich will jetzt vor die Fernsehkamera gehen und meinen Anspruch anmelden, die Regierung zu bilden. Kann ich das tun?“ Meine knappe Antwort war: „Ja!“
Scheel betonte, „Wochen und Monate des Durchdenkens“ seien dem vorausgegangen. Die damals entstandene Koalition habe nur auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaut werden können: „Vertrauen in die beiderseitige Bereitschaft, die wichtigen politischen Fragen anzupacken und zu lösen, zu deren Erledigung es einer neuen parlamentarischen Mehrheit bedurfte.“ Auf dieser Basis gelang es SPD und FDP, ihre erstes Regierungsbündnis auf Bundesebene zu schmieden – und so gemeinsam Geschichte zu schreiben.