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Pool-Party. Früher wurde in der Zeche Zollverein Kohle abgebaut. Heute kann man sich im ehemaligen Werksbad erfrischen.
© Jochen Tack/Stiftung Zollverein

Heimreise nach Essen: Das alte Ruhrgebiet ist bald Geschichte

Ihre Kindheit roch nach Ruß, ihre Berge waren Kohlehalden und die Mutter kaufte bei Krupp. Der Pott von damals schwindet, dafür entdeckt unsere Autorin in Essen neue Museen und alte Kneipen.

Die großen Ferien haben wir immer in Holland verbracht: frische Luft schnappen. Auf dem Rückweg wussten wir genau, wann es nicht mehr weit bis nach Hause war. Wir haben es gerochen. Spätestens in Oberhausen stieg uns „Rußland“, wie das selbstironische Motto einer Imagekampagne hieß, beißend in die Nase, es qualmte überall. Unser Zuhause lag in Essen-Frillendorf, gleich neben dem Schacht, die ganze Nachbarschaft hat auf der Zeche gearbeitet, unser Vater auch. Gekriselt hat es schon damals, in den 60ern. Bald ist das Ruhrgebiet, wie ich es kannte, endgültig Geschichte. Ende des Jahres macht mit Prosper Haniel die letzte Zeche zu. Zeit für eine Heimreise.

Zollverein

„Rußland“ kam bei den Einheimischen gar nicht gut an, das Image des dreckigen Malocher-Potts wollte man doch gerade loswerden. Viele hätten die stillgelegten Industriebauten am liebsten gleich abgerissen. Ist zum Glück nicht passiert. Ein weiser Franke sorgte für den Schutz der Fabriklandschaft, deren Leuchtturm die Zeche Zollverein ist, inzwischen Weltkulturerbe, ein 100 Hektar gigantisches Gelände – jeder Freizeitpark ein Witz dagegen. Zollverein ist viel mehr als der berühmte, atemberaubende Förderturm: das elegante Design der Neuen Sachlichkeit mit dem warmen rotbraunen Backstein, die modernen Um-und Weiterbauten von Architekten wie Norman Foster, Heinrich Böll und Sanaa, die das Raue und Rohe bewahrt haben, dazwischen Birken, artenreiche Industrienatur, die Kokerei mit dem Becken, das sich im Winter in eine Schlittschuhbahn, im Sommer in ein Schwimmbad verwandelt. Unter einem Tag geht gar nichts. Und unbedingt eine Führung buchen – am besten freitagabends mit einem früheren Bergmann. (Gelsenkirchener Str. 181, zollverein.de)

Ruhr Museum

Wer nicht so viel Zeit hat, geht schnurstracks ins Museum. In der alten Kohlenwäsche der Zeche Zollverein wird man durch die Geschichte des Reviers geführt, vorbei an einer Staublunge unter Plexiglas. Von wegen, das Ruhrgebiet war eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Hier lernt man, dass die Sachsen, die Preußen und auch das wollhaarige Nashorn viel früher da waren. Wie viele Institutionen der Region widmet das Ruhr Museum sich in diesem Jahr dem Ende des Steinkohlebergbaus. Derzeit läuft die Ausstellung „Das Zeitalter der Kohle“ (ruhrmuseum.de, Informationen über alle Projekte zum Ende des Bergbaus unter anderem unter glueckauf-zukunft.de). Stärken kann man sich im Casino, mit Rollmops und Kopfsalat nach Omas Art, in Sahne, Zucker und Zitrone. Daran laben sich in der Industriekulisse Holländer, Japaner, Amerikaner und Schwaben. Leute, die vor 40 Jahren noch die Nase über den Pott gerümpft haben, verbringen jetzt ihre Ferien hier. 1,5 Millionen Besucher zählt Zollverein im Jahr.

Katernberg

Richtige Berge kannten wir nicht, nur Kohlehalden, Stoppenberg und Katernberg. Der Zollverein erstreckt sich über beide Stadtteile im Essener Norden. In Monte Katerno, wie wir es als Kinder nannten, dem alten Arbeiterviertel, erklingt heute noch der Sound des Ruhrgebiets. „Ich find datt ja herrlich“, sagt die Verkäuferin der Metzgerei Kolditz, während die kernige Fleischerin ihre Kundin, Frau Krause, ermahnt, nicht so leise zu sprechen: „Wie ein Vögelchen!“ Hier gibt’s Mettwurst und Sauerbraten vom Feinsten.

Pension Pötters

Die Brasilianerin mit dem ganz unbrasilianischen Namen Regina Lieders hat im Hof hinter der Fleischerei Ferienwohnungen eingerichtet. Gelsenkirchener Barock, Schränke und Spiegel sind zum Teil noch original von Familie Pötters, die Anfang des 20. Jahrhunderts Fuhrwerke baute und Kinos besaß. Anstelle von Pferden parken heute die Räder der Touristen in der Halle (Hermannstr. 4, pension-poetters.de, ab 70 Euro die Nacht).

Die Aalto-Oper spukte durch meine Jugend

Schwinger-Club. Die Aalto-Oper fällt auf durch dynamische Formen.
Schwinger-Club. Die Aalto-Oper fällt auf durch dynamische Formen.
© Thomas Schwoerer

Straßenbahn

Mit der Tram sind wir zur Schule gefahren, zum Schwimmen und „in die Stadt“, die lag nur drei Haltestellen von Frillendorf entfernt. Heute fährt man mit der Straßenbahn zur Kultur. Die Nummer 107 hält in Katernberg und an der Zeche Zollverein, der Alten Synagoge und der Lichtburg, dem größten Filmpalast Deutschlands, und dem Folkwangmuseum, dem Grugapark – und schließlich Bredeney. Die einfachste und günstige Art der Stadtrundfahrt. Einmal vom armen Norden in den reichen Süden (kulturlinie107.de). Seit Essen 2017 zur „Grünen Hauptstadt Europas“ gekürt wurde (echt!), gibt es auch eine Naturlinie, Straßenbahn Nummer 105, die zu den Parks führt (naturlinie105.de).

Aalto-Musiktheater

Sie spukte durch meine Kindheit, meine Jugend, die Aalto-Oper, der große Wurf, nach dem sich alle sehnten – kommt sie, kommt sie nicht –, spukte weiter, da lebte ich schon längst nicht mehr in der Stadt, und als sie 1988 endlich gebaut wurde, war der Architekt schon zwölf Jahre tot. Umso mehr genießt man das Vergnügen des heutigen Besuchs, das überwältigende Gefühl, im Foyer zu stehen, durch das Panoramafenster ins Grüne des Stadtgartens zu schauen. Ein Bau mit Schmackes und Schwung, die Wände in weicher Bewegung. Das Eckige gefiel dem Finnen Alvar Aalto so wenig wie das Pompöse. (Opernplatz 10, theater-essen.de/oper).

Museum Folkwang

Picasso bin ich begegnet, lange bevor ich seinen Namen buchstabieren konnte, zusammen mit Beckmann, Matisse und Klee. Ob wir wollten oder nicht, unser Vater schleppte uns so regelmäßig ins Folkwangmuseum wie ins Grugabad. Den Gang durch die hellen Räume der leichten 50er-Jahre-Pavillon-Architektur habe ich in bester Erinnerung, führte er doch zum Kinosaal, in dem wir Kleinen tschechische und polnische Zeichentrickfilme sahen. Hier habe ich mich auch in die Fotografie verliebt – das Folkwang, seit seiner Gründung in den 1920er Jahren eine progressive Institution, war eines der ersten deutschen Museen, das Fotografie als Kunstform ernst nahm. Dank der Stiftung Krupp konnte man sich 2010 eine moderne Erweiterung von David Chipperfield leisten, und inzwischen sogar freien Eintritt zur hochkarätigen Sammlung (Museumsplatz 1, museum-folkwang.de). Und das Beste: Gegenüber gibt’s noch eine Bude mit Lakritz.

Margarethenhöhe

Krupp war früher überall. Im Kruppschen Krankenhaus kriegten wir die Polypen entfernt, im Kruppschen Konsum ging unsere Mutter billig einkaufen, und in die alte Kruppsche Residenz, die Villa Hügel, ein „Einfamilienhaus“, wie es im Grundbuch steht, mit 269 Zimmern, wurden auswärtige Besucher in Ausstellungen geführt. Lohnt sich heute noch, wegen der Geschichte, des Parks und des herrlichen Blicks auf den Baldeneysee. Hier startet eine der „Routen der Industriekultur“. Sympathischer allerdings ist die Margarethenhöhe: eine englische Gartenstadt mitten im Ruhrgebiet, die erste im ganzen Land, 1906 von Margarethe Krupp anlässlich der Hochzeit ihrer Tochter Berta gestiftet. Die Siedlung mit den malerischen Häusern, samt Giebel, Erker und bunten Türen, ist ein Musterbeispiel menschenfreundlichen, erschwinglichen Wohnens und entsprechend begehrt. Reisende mieten sich einfach im historischen Hotel am Marktplatz ein (Mintrops Stadt Hotel Margarethenhöhe, Steile Straße 46, mintrops-stadthotel.de). Am besten schließt man sich einer Führung durch die Margarethenhöhe an, so kommt man auch ins Atelierhaus und die Musterwohnung (organisiert vom Ruhr Museum).

Essen zählte mal zur Avantgarde

Eck-Haus. In der Margarethenhöhe sieht man noch Giebel und Erker.
Eck-Haus. In der Margarethenhöhe sieht man noch Giebel und Erker.
© Peter Wieler

Rüttenscheid

Rüttenscheid, das war für uns die große, weite Welt. So schwer die Stadt im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde (Krupp sei Dank), hier stehen noch ein paar Altbauten herum, kleiner, bescheidener als in Berlin, aber immerhin. An der Rü, so nennen sie hier die Rüttenscheider Straße, als sei’s die Champs-Élysées, reiht sich Kneipe an Restaurant an Kino. Nachmittags isst man Sahnetorte im Café Kötter, guckt abends Filme im Studio Glückauf, dem ältesten Kino des Ruhrgebiets, im Original-Look meiner Kindheit, und nachts um vier verspeist man Strammen Max in der „Ampütte“, der ältesten Kneipe der Stadt, um die Ecke vom Folkwangmuseum. In Rüttenscheid ist die kleine Elke Heidenreich Rollschuh gefahren und hat Kohle aus dem Keller hochgeschleppt. Alles, was lustig, spontan und laut an ihr sei, komme hierher, hat Heidenreich, die als Else Stratmann berühmt wurde, gesagt.

Heiliger Schutzengel

Frillendorf. Mein Frillendorf gibt’s nicht mehr. Bauer Schmidt und seine Felder: weg. Unser Garten: zugebaut. Die Häuser der Nachbarn: abgerissen und durch hässliche Nachfolger ersetzt. Die Zeche dient heute als Gewerbegebiet. Nur der Heilige Schutzengel steht noch. An der Katholischen Kirche liefen wir auf dem Weg zur evangelischen Volksschule vorbei, damals lernte man noch nach Konfessionen getrennt. Mir war nie aufgefallen, wie schön die expressionistische Backsteinkirche ist. Essen zählte mal zur Avantgarde, Hochburg moderner Reformarchitektur, das Moltkeviertel ist ein schönes Beispiel dafür, die evangelische Auferstehungskirche von Otto Bartning, in der ich zum Entsetzen unserer Lehrerinnen Hanni und Nanni unter der Kirchenbank geschmökert habe. Hat mich fast den Bibliotheksausweis gekostet. Zumindest als katholisches Gotteshaus wird auch der Schutzengel verschwinden, 2025 muss die Frillendorfer Gemeinde umziehen. Die Kirchen müssen sparen und legen Gottesdienste zusammen.

Werden

Der Norden der Stadt war dreckig und arm, der Süden reich und grün. Die Kumpel wohnten in Katernberg, die Wohlhabenden am Baldeneysee. Essen wurde der Schreibtisch des Ruhrgebiets genannt, Rußland-Besucher waren ganz überrascht: Dass es so was im Pott gibt! Dass Essen älter ist als Berlin, kann man in Werden erkennen. Ein romantischer alter Ort, ein richtiges Uni-Städtchen, mit der legendären Folkwangschule, inzwischen Universität der Künste, aus demselben Geist wie das Museum geboren, die berühmteste Absolventin heißt Pina Bausch. Am zauberhaftesten spaziert es sich hier an einem Sommertag, wenn aus den Schulfenstern Mozart und Chopin herauswehen. Und hinterher ein Sauresahneeis bei Ernst Kimmeskamp, kurz: Kika’s Eiscafé.

Wie sagte der Mann in Katernberg am Markt beim Abschied zu seinem Kumpel? „Bleib artich!“ „Du auch, hömma.“

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