EU-Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge: "Kollektive Realitätsverweigerung"
Die EU streitet weiter über angemessene Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge. Dass die in einigen EU-Staaten ohne jede Unterstützung auf der Straße leben müssen, spielt in der Debatte kaum eine Rolle.
Auf der griechischen Insel Kos spielen sich derzeit täglich Dramen ab, die außerhalb des Landes bisher kaum wahrgenommen wurden. Täglich kommen auf dieser und anderen Ägäisinseln bis zu 500 Flüchtlinge an, die meisten aus Syrien und Afghanistan. Ähnlich wie die Bootsflüchtlinge, die in Italien ankommen, haben auch sie eine gefährliche Überfahrt über das Meer hinter sich. Anders als in Italien allerdings gibt es auf den griechischen Inseln praktisch keine Versorgungsstrukturen für die Flüchtlinge. Viele schlafen unter freiem Himmel, ohne Zugang zu sanitären Anlagen. Allein im April kamen fast 12.000 Flüchtlinge nach Griechenland.
Wartezentren an den Außengrenzen
Die Politik hält mit den aktuellen Entwicklungen kaum Schritt. Auf Schloss Moritzburg bei Dresden berieten in den vergangenen beiden Tagen die Innenminister der einwohnerstärksten EU-Staaten, außer Deutschland sind das Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien, über Möglichkeiten, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. Zu einem konkreten Ergebnis kamen sie nicht. Berlin und Paris machten aber neue Vorschläge. Erst in der vergangenen Woche hatte die EU-Kommission in Brüssel eine Umverteilung vorgeschlagen, um die Außengrenzländer Italien und Griechenland zu entlasten. Demnach sollen zunächst 40.000 Syrer und Eritreer auf Europa verteilt werden, wobei Deutschland 22 Prozent, Frankreich 17 Prozent der Menschen aufnehmen sollte. Dabei hatte Brüssel die schon jetzt dort lebenden Flüchtlinge berücksichtigt, aber die Wirtschaftsleistung und Größe der beiden Länder stärker gewichtet. Paris und Berlin sehen sich dadurch zu stark belastet und schlagen stattdessen vor, in Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen so genannte Wartezentren zu eröffnen, in denen Flüchtlinge registriert werden. Alle, die „offensichtlich schutzbedürftig“ seien, sollten dann nach einem festgelegten Verteilungsschlüssel auf die EU-Staaten verteilt werden, während Flüchtlinge, die keine Chancen auf Asyl hätten, möglichst direkt abgeschoben werden sollten. Wer nicht eindeutig einzustufen sei, solle im Ankunftsland das bisher übliche Asylverfahren durchlaufen.
Kollektive Realitätsverweigerung?
"Die EU reagiert mit immer neuen Konstrukten, die aber alle nicht funktionieren werden“, sagt dazu Günter Burkhardt von Pro Asyl. Dagegen spreche allein die große Zahl der Asylsuchenden, für die schnell eine Lösung gefunden werden müsse. Er spricht von einer „kollektiven Realitätsverweigerung“ in der EU. „Das Asylrecht ist ein auf den Einzelfall bezogenes Menschenrecht.“ Jeder Flüchtling habe das Recht auf eine individuelle Prüfung seines Asylgesuchs. Auch die Debatte über angemessene Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge in der EU sei realitätsfern. „Die Flüchtlinge werden nicht in Bulgarien oder in anderen Staaten bleiben, in denen es praktisch keine Aufnahmestrukturen gibt.“ In vielen EU-Staaten gebe es keinerlei finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge und auch keine Unterkünfte. „Die Flüchtlinge landen dort auf der Straße.“
Wahlfreiheit statt Quote
Burkhardt plädiert dafür, Flüchtlinge dorthin ziehen zu lassen, wo sie für sich eine Perspektive sehen. Schon jetzt ziehen viele Flüchtlinge aus anderen EU-Staaten nach Deutschland weiter, sei es, weil sie hier Angehörige haben oder einfach, weil sie hier „wie Menschen behandelt werden“, wie Mohammed (26) aus Syrien sagt, der sich regelmäßig mit anderen Flüchtlingen und Berlinern in einem Flüchtlingscafé in Pankow trifft. Der junge Mann erreichte nach einjähriger Flucht Litauen und damit die EU. „Dort wurde ich vier Monate eingesperrt wie ein Krimineller.“ In der Öffentlichkeit sei er wie ein Aussätziger behandelt worden. „Anders als in Deutschland gibt es dort kaum Ausländer, schon in der U-Bahn fällt man auf und wird angepöbelt.“ Sein gleichaltriger Freund, der ebenfalls Mohammed heißt, berichtet ähnliches aus Bulgarien.
UNHCR kritisiert Lage in Litauen
Die individuelle Erfahrung bestätigte vor Monaten eine Untersuchung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen. In einem Bericht vom September 2014 schreibt das UNHCR über die Lage in Litauen:„Aus den Interviews mit Flüchtlingen nahmen die Teams den starken Eindruck mit, dass ihre vorherrschenden Gefühle Verzweiflung, Traurigkeit und Motivationsverlust waren, weil die Integrationshindernisse unüberwindbar schienen und viele sogar dazu brachten, das Land zu verlassen, um anderswo bessere Möglichkeiten zu finden.“
Flüchtlinge wollen arbeiten
Anders als von vielen Europäern geargwöhnt, sind es nicht bessere Sozialstandards anderswo, die sie in eine neue, jetzt innereuropäische Flucht treiben, heißt es in einer anderen UNHCR-Studie über Integration in Europa:Arbeiten zu können sei das wichtigste Thema aller Flüchtlinge – aber gerade sie würden noch stärker vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen als andere Migranten, etwa weil sie ihre Qualifikationen nicht nachweisen könnten oder oft keine Papiere mitbrächten. Oder weil Vorurteile sie ausschließen: Über Litauen heißt es im Länderbericht des UNHCR, dass 70 Prozent der dort lebenden Flüchtlinge ohne Arbeit seien. „Die Analyse der Daten ergab, dass litauische Firmen zwar unter Arbeitskräftemangel leiden, die Mehrheit der Arbeitgeber aber dennoch nicht bereit sind, Asylbewerber und/oder Flüchtlinge einzustellen.“ Das Gutachten kommt zu dem Schluss, „dass Arbeitgeber von Fremdenfeindschaft und negativen Stereotypen über andere Nationalitäten beeinflusst sind und tendenziell mehr Informationen über Bewerber mit ausländischen Hintergrund wollten, wenn sie Stellen anboten“. Für Pro-Asyl-Gschäftsführer Burkhardt führt angesichts solcher Berichte kurzfristig kein Weg daran vorbei, dass Staaten wie Deutschland auch weiterhin den Hauptanteil der Flüchtlinge aufnehmen müssen. „Vielleicht kann man in Staaten wie Litauen spezielle Studienprogramme für Flüchtlinge etablieren oder andere Angebote machen, die Flüchtlingen eine Perspektive bieten“, schlägt er vor.
Andrea Dernbach, Ulrike Scheffer