Merkel sieht Leichtfertigkeit bei Corona: Klinikeinweisungen und Todeszahlen „sollten uns allen Sorgen bereiten“
Es stimme sie „sehr traurig“, dass viele über 60 noch nicht gegen Corona geimpft seien, sagt Merkel. Der Ärztepräsident will strengere Auflagen für Ungeimpfte.
Kaum ein Thema spaltet Deutschland derzeit so wie die Impfungen gegen das Coronavirus. Angesichts der aktuell steigenden Fallzahlen dürfte sich der Streit zwischen Geimpften und Genesenen auf der einen Seite und Impfgegner auf der anderen noch verschärfen. Die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte in einem Interview jetzt noch einmal, sie stehe dazu, dass es hierzulande keine Impfpflicht gibt.
„Aber dass zum Beispiel noch zwei, drei Millionen Deutsche über 60 ungeimpft sind, stimmt mich sehr traurig, weil das einen Unterschied machen könnte für sie persönlich wie für die ganze Gesellschaft“, sagte Merkel der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS). Die aktuelle Entwicklung der Hospitalisierungswerte und der Todeszahlen bereite ihr „große Sorgen“, sagte die frühere CDU-Chefin. „Sie sollte uns allen Sorgen bereiten.“ Derzeit mache sich allerdings „schon wieder eine gewisse Leichtfertigkeit breit“.
„Die diesjährigen Fallzahlen sind deutlich höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres“, heißt es im aktuellen Wochenbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Donnerstag. Am Samstag meldete das RKI 21.543 Neuinfektionen und einen Sieben-Tage-Wert je 100.000 Einwohner von 145,1. Zum Vergleich: Am 30. Oktober des Vorjahres waren es 18.681 Neuinfektionen, die Inzidenz lag bei 104,9. Zuletzt wurden an mehreren Tagen deutlich mehr als 100 Covid-19-Tote registriert, am Samstag waren es 90 binnen 24 Stunden.
Klar unter den Werten vom Vorjahr liegt die Hospitalisierungsrate, sie war am Freitag auf 3,5 gestiegen. Allerdings wird dieser Wert aufgrund von Nachmeldungen in den kommenden Tagen noch steigen: Zwischen der Meldung einer Infektion und der Hospitalisierung vergehen im Schnitt etwa zehn Tage, die Hospitalisierungs-Inzidenz spiegelt die Infektionslage also erst deutlich verzögert wider. Der bisherige Höchstwert lag um die Weihnachtszeit bei rund 15,5.
Dem Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) zufolge gab es auf Intensivstationen (Stand Samstag) 1932 Covid-19-Patienten. Demnach waren insgesamt in Deutschland noch 2714 Intensivbetten frei.
Zwar sind inzwischen auch zwei Drittel der Bevölkerung voll geimpft, entsprechend höher ist aber das Risiko durch und für Ungeimpfte. Um die Pandemie überhaupt eindämmen zu können, wäre dem RKI zufolge eine Impfquote von 85 bis 90 Prozent bei den über Zwölfjährigen nötig – ergänzt durch Auffrischungsimpfungen.
Strengere Maßnahmen für Ungeimpfte?
Wegen der signifikant steigenden Zahlen warnen Mediziner und Gesundheitspolitiker vor einer Überlastung des Gesundheitssystems – und fordern neue Auflagen. So spricht sich Ärztepräsident Klaus Reinhardt für strengere Maßnahmen für Ungeimpfte aus. „Möglicherweise müssen wir bei weiter zunehmenden Fallzahlen eine gesellschaftliche Diskussion führen, ob Lockdown-Maßnahmen nur für Ungeimpfte gelten“, sagte er dem „Spiegel“. „Ich fände das gerechtfertigt, wenn es darum gehen sollte, die stationäre Versorgung zu sichern“, so der Präsident der Bundesärztekammer.
Es seien derzeit vor allem die Ungeimpften, die mit schweren Covid-19-Verläufen in den Kliniken behandelt werden müssten. Kinder oder andere Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können, sollten von strengeren Vorgaben „natürlich ausgenommen sein“, so Reinhardt. „Nach 18 Monaten Pandemie ist das Personal ausgebrannt, viele Pflegekräfte sind aus dem Dienst geschieden, deshalb können die Kliniken nicht mehr alle Betten belegen“, sagte Reinhardt weiter.
Reinhardt schließt nicht aus, dass planbare Operationen künftig „im schlimmsten Fall“ wieder verschoben werden müssten. „Deswegen halte ich es für eine Frage der Solidarität, sich und andere zu schützen. Es kann doch nicht sein, dass es mehr als zehn Millionen Erwachsene gibt, die noch immer nicht geimpft sind.“
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Zuvor hatte bereits der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, gewarnt: „Die Inzidenzen sind weiterhin extrem eng gekoppelt an die Aufnahmen auf die Intensivstationen“, sagte der leitende Oberarzt an der Lungenklinik Köln-Merheim dem Deutschlandradio. Zwar seien die Intensivstationen derzeit mit Covid-19- und anderen Patientinnen und Patienten etwa gleich stark belegt wie vor einem Jahr, allerdings gebe es inzwischen weniger freie Kapazitäten, weil die Zahl der Betten wegen fehlenden Pflegepersonals verringert werden musste, betonte Karagiannidis. Ähnlich äußerte er sich auf Twitter.
Zu einem weiteren Problem scheinen sich aktuell wieder die Pflegeheime zu entwickeln. Im RKI-Wochenbericht heißt es, es habe erneut einen deutlichen Anstieg von Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen gegeben. Am Freitag wurde bekannt, dass ein solcher Ausbruch in einer Seniorenresidenz in Brandenburg bereits acht Bewohner das Leben gekostet hat, wie der RBB berichtete. Insgesamt seien in der Einrichtung in Schorfheide am Werbellinsee 42 Bewohner und 15 Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt, bestätigte das Gesundheitsamt des Landkreises Barnim dem Sender Antenne Brandenburg.
Nur etwa 50 Prozent der Beschäftigten in dem Heim seien geimpft gewesen, deutlich weniger als unter den Bewohnern, sagte Amtsärztin Heike Zander dem Radiosender Antenne Brandenburg. Sie sei „unglücklich“ darüber, dass Impfungen in Pflegeeinrichtungen weiterhin freiwillig sind. „Das hat für mich auch was mit einer Berufseinstellung zu tun.“
Heime trotz Impfungen „tödlicher Hotspot der Pandemie“
Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Stefanie Drese (SPD) forderte nach mehreren Ausbrüchen in Pflegeeinrichtungen des Landes eine Impfpflicht für Beschäftigte in der Branche. „Es ist mein Ziel, eine Impflicht für Pflegepersonal rechtssicher hinzubekommen“, sagte Drese dem „Spiegel“. Die Impfpflicht muss Drese zufolge bundesweit im Infektionsschutzgesetz geregelt werden. Wegen juristischer Schwierigkeiten sei das in diesem Winter voraussichtlich noch nicht zu erreichen.
Der Virologe Hendrik Streeck sagte der „Welt am Sonntag“ zur Lage in den Alten- und Pflegeheimen: „Trotz der Impfung ist dort weiterhin der tödliche Hotspot der Pandemie. Das heißt vor allem: breitflächig eine Booster-Impfung anzubieten und in Alten- und Pflegeheimen konsequent und regelmäßig zu testen.“
Auch der Chef der Bundesärztekammer sagte: „Die dritte Corona-Impfung kann gerade bei älteren und vorerkrankten Menschen das Infektionsrisiko erheblich reduzieren.“ Die Ständige Impfkommission (Stiko) habe deshalb klare Impf-Empfehlungen für Menschen ab 70 Jahre, Vorerkrankte und Menschen aus bestimmten Berufen ausgesprochen, so Reinhardt. Er rate Bürgerinnen und Bürgern aus diesen Gruppen dringend, Angebote für Drittimpfungen wahrzunehmen.
„Neben Impfungen in den Praxen brauchen wir möglichst viele niedrigschwellige Impfangebote am Arbeitsplatz, in Pflegeheimen und in Seniorenbetreuungseinrichtungen.“ In Nordrhein-Westfalen haben nach Angaben der Landesregierung bereits 90 Prozent aller Bewohnerinnen und Bewohnern von Altenheimen die Booster-Spritze bekommen.
Lauterbach lehnt Impfpflicht in Pflegebranche ab
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach lehnt eine Impfpflicht für Pflegekräfte ab. „Damit würden wir massive Auseinandersetzungen mit den Querdenkern und Impfverweigern bekommen“, sagte er dem Tagesspiegel. Sinnvoll sei dagegen folgendes: „Wer nicht geimpft ist, muss sich vor der Arbeit im Pflegeheim täglich testen lassen. Impfung oder tägliches nachgewiesenes Testen müssen bundesweit gelten.“
Er schlug vor, einen Corona-Gipfel einzuberufen. „Helfen würde eine Bund-Länder-Konferenz, wo genau dargelegt wird, wie viele Booster-Impfungen sind erfolgt, wie kann das Tempo erhöht werden, wer soll das machen. Es muss jetzt, sehr schnell gehen, sonst kommen wir eine schwierige Situation hinein“, betonte der Epidemiologe.
Vermutlich haben erst 1,8 Millionen Deutschen haben ihre Booster-Impfung bekommen. Dabei bräuchten mehr als 6,1 Millionen die Auffrischung, weil ihr Impfschutz sechs Monate oder älter ist. Andere Länder wie Belgien, Frankreich, Österreich aber auch Polen sind hier viel schneller als Deutschland.
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Mit der Booster-Spritze rund sechs Monate nach der vollständigen Impfung können nach Ansicht von Experten die sogenannten Impfdurchbrüche verhindert werden. Dass es diese geben würde und deren Zahl mit zunehmender Impfquote steigen werde, hatte das RKI als „erwartbar“ bezeichnet. Wie wichtig die dann meist dritte Spritze sein kann, zeigt der Wochenbericht. Von Anfang Februar bis Ende voriger Woche hat das RKI 117.763 wahrscheinliche Impfdurchbrüche registriert. In diesem Zeitraum wurden 55 Millionen Menschen vollständig geimpft.
Demnach starben insgesamt 1076 Menschen mit wahrscheinlichen Impfdurchbrüchen. 782 von ihnen waren mindestens 80 Jahre alt. „Das spiegelt das generell höhere Sterberisiko – unabhängig von der Wirksamkeit der Impfstoffe – für diese Altersgruppe wider“, heißt es in dem Bericht.
Durchbruchsinfektionen bei den Älteren liegen auch daran, dass diese Gruppe als erste die Corona-Impfung bekommen hat – hier nimmt die Impf-Wirkung bereits wieder ab. Und das Immunsystem ist aufgrund des Lebensalters eventuell ohnehin geschwächt. Das RKI bilanziert: Der Anteil der Impfdurchbrüche bei allen Covid-19-Fällen zeige, dass nur ein geringer Anteil der hospitalisierten, auf Intensivstation betreuten beziehungsweise verstorbenen Covid-19-Fälle als Impfdurchbruch zu bewerten ist.
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Generell stellte das RKI fest, der Anteil Geimpfter sei in den vergangenen Wochen kaum noch gestiegen. Ärztepräsident Reinhardt kritisierte daher die Impfkampagne. „Es ist höchste Zeit, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine richtige Aufklärungskampagne startet – mit Spots in sozialen Medien und im Fernsehen und in allen Sprachen, die bei uns gesprochen werden. Wir müssen endlich Schluss machen mit den Fehlinformationen über angebliche Unfruchtbarkeit oder andere Spätfolgen durch das Impfen“, sagte Reinhardt.
Mit möglichen Langzeitfolgen hatte auch Fußball-Nationalspieler Joshua Kimmich, begründet, dass er bisher nicht geimpft ist. Bundeskanzlerin Merkel sagte der FAS dazu: Auch ein Profifußballer habe das Recht, sich nicht impfen zu lassen, sagte Merkel. „Es gibt auf seine Fragen und Zweifel sehr gute Sachargumente, die allgemein verfügbar sind.“ Und weiter: „Vielleicht macht sich Joshua Kimmich darüber ja auch noch Gedanken. Er ist ja als sehr reflektierter Fußballer bekannt.“ (mit ir)