Ausschreitungen in Hamburg: Kipping kritisiert Polizei: "Deeskalation sieht anders aus"
Linkspartei-Chefin Katja Kipping erklärt den Polizeieinsatz beim G20-Gipfel für gescheitert. Deutungshoheit, was linke Gipfelkritik ist, dürfe nicht Brandstiftern überlassen werden.
Frau Kipping, Ihnen wird vorgeworfen, sich nicht hinreichend von der linksradikalen Gewalt am Wochenende in Hamburg distanziert zu haben. Sehen Sie sich einer Kampagne ausgesetzt?
Der Vorwurf ist einfach falsch und wohl eher unter Wahlkampf einzuordnen. Ich habe zeitnah und wiederholt klargemacht, dass Autos anzuzünden oder Läden zu plündern oder Steine auf Menschen zu werfen Straftaten sind und wir das auf das Schärfste verurteilen. Solche Taten sind auch gegenüber den vielen, die friedlich demonstrieren, ein Bärendienst. Deren gute Argumente sind dadurch in den Hintergrund getreten.
Sie haben die Polizei nach der abgebrochenen „Welcome to Hell“-Demonstration am Donnerstagabend mitverantwortlich gemacht für die Eskalation. Die Gewerkschaft der Polizei wirft Ihnen deshalb eine „erbärmliche Denunziation“ vor. Können Sie das nachvollziehen?
Ich kann nachvollziehen, dass viele Polizistinnen und Polizisten nach den Einsätzen am Wochenende am Ende ihrer Kräfte waren – auch, weil es eine völlig verfehlte Strategie der Einsatzleitung gab. Das aber geht an die Adresse der politisch Verantwortlichen. Tatsache ist, dass die Einsatzleitung in Hamburg eine Strategie gefahren hat, die sehr stark auf Repression gegenüber friedlichen Sitzblockaden gesetzt hat, die teilweise die Pressefreiheit außer Kraft gesetzt hat. Alle journalistischen Beobachter haben das Vorgehen gegen die genannte Demo als unverhältnismäßig bezeichnet. Deeskalation sieht anders aus. All das ist keine Entschuldigung für Straftaten.
Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz verbittet sich Kritik an der Polizei und nennt den Einsatz der Beamten „heldenhaft“. Verkennt er die Situation?
Es ist sein Versuch, vom Scheitern und von den Fehleinschätzungen der politisch Verantwortlichen abzulenken. Kritische Fragen sind sehr wohl berechtigt und Teil unseres demokratischen Auftrags. Vehement wurde etwa gegen friedliche Blockaden und die Camps vorgegangen. Es gab auch Schikanen in den Protestcamps: Den Leuten wurde etwa Anfang der Woche noch gesagt, ein Brötchen dürft ihr mit hineinnehmen, aber keine Kekse, denn die kann man ja teilen. Auch gemeinsames Kochen war nicht erlaubt. Dort, wo es darauf angekommen wäre, Straftaten zu unterbinden, gab es eine auffällige Abwesenheit. Dafür können die einzelnen Polizisten nichts, aber sehr wohl die Einsatzleitung, die die falschen Schwerpunkte gesetzt hat. Ich halte nichts von einer argumentativen Verquickung nach dem Motto: Man kritisiere nur dann glaubwürdig die Gewalt, wenn man die Polizei-Einsatzleitung von jeder Kritik ausnimmt. Gerade wenn einem Deeskalation wichtig ist, muss man sagen, die Einsatzstrategie war falsch.
Führende Politiker der Bundesregierung, namentlich Kanzleramtsminister Peter Altmaier und Außenminister Sigmar Gabriel, haben die Gewalt in Hamburg mit rechtsextremistischem oder sogar islamistischem Terror verglichen. Ärgert Sie das?
Das ist eine heftige Relativierung und Verharmlosung von Anschlägen auf Leib und Leben und vor allem von Terrorismus. Noch einmal: Straftaten kritisieren wir hart, sie müssen auch verfolgt werden. Es ist aber niemanden geholfen, wenn wir jetzt anfangen, Anschläge auf Asylbewerberheime, die Morde des NSU oder Selbstmordattentate und Massenvergewaltigungen des Islamischen Staats mit den Vorgängen in Hamburg in einen Topf werfen. Analytisch ist dabei beim Kampf für mehr Sicherheit nichts gewonnen.
Ihr Parteifreund Jan van Aken hat ja die Großdemonstration gegen G20 am Samstag angemeldet, an der sich Zehntausende beteiligten. Der Lichtblick des Wochenendes?
Es war großartig, dass viele Menschen zu einer Demo gekommen sind, um bunt und friedlich ihre Kritik am Gipfel zum Ausdruck zu bringen. Diese Demo der 80.000 ist das Gesicht der Proteste. Wir sollten nicht die Deutungshoheit darüber, was linke Gipfelkritik ist, einigen hundert überlassen, die Autos anzünden.
Katja Kipping (39) ist Vorsitzende der Linkspartei. Das Gespräch führte Matthias Meisner.