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Oft ohne Arzt und Impfung: ein Flüchtlingskind in Berlin.
© AFP

Minderjährige Flüchtlinge: Kinderärzte schlagen Alarm

Flüchtlingskinder haben hierzulande ein Grundrecht auf umfassende ärztliche Versorgung. Tatsächlich sind sie oft nicht einmal ausreichend geimpft.

Der Verband der Kinder- und Jugendärzte hat die Politik aufgerufen, sich weit stärker um die gesundheitliche Versorgung minderjähriger Flüchtlinge zu kümmern. Es sei dringend nötig, bei allen Ankömmlingen einen „lückenlosen Impfschutz sicherzustellen“, sagte Verbandpräsident Wolfram Hartmann dem Tagesspiegel. Zudem müssten Asylbewerber – wie bisher nur in Bremen und Hamburg praktiziert – von Anfang an Krankenversicherungskarten erhalten, um mit ihren Kindern unbürokratisch Ärzte aufsuchen zu können und auch Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen zu erhalten.

Gesundheitsdienst "völlig überfordert"

Aufgrund fehlender Kapazitäten und unzureichender Finanzierung blieben zahlreiche Flüchtlingskinder viel zu lange ungeimpft, sagte Hartmann – obwohl in ihren Herkunftsländern oft noch gefährliche Krankheiten wie Kinderlähmung oder Tuberkulose grassierten. Der öffentliche Gesundheitsdienst sei durch die hohen Flüchtlingszahlen „völlig überfordert“, es gebe kaum Dolmetscher und keinerlei Koordination. Und an Vorsorgeuntersuchungen oder eine zielgerichtete Behandlung kriegstraumatisierter Kinder sei gar nicht zu denken. Schließlich hätten die Ankömmlinge trotz UN-Kinderrechtskonvention hierzulande lediglich Anspruch auf Akutversorgung.

Wenn Kinderärzte in den Aufnahmelagern tätig würden, geschehe das in der Regel freiwillig oder auf Bitten der örtlichen Gesundheitsämter, berichtet Hartmann. Oft behelfe man sich bei den Erstuntersuchungen inzwischen mit Medizinern im Ruhestand, viele praktizierten dort ehrenamtlich. Allerdings fehle es immer wieder an Impfstoffen, die Finanzierung sei vielerorts ungeklärt.

Röteln, Masern, Keuchhusten

Da sich der Impfstatus bei den Flüchtlingen wegen fehlender Dokumente kaum ermitteln lasse, müssten alle Asylbewerber komplett durchgeimpft werden, fordert der Kinderarztfunktionär – zumal es in etlichen Aufnahmelager bereits Ausbrüche von Windpocken, Röteln, Masern und Keuchhusten gegeben habe.

„Die Krankheiten warten nicht, bis wir uns organisiert haben“, sagt der Berliner Kinderarzt Klemens Senger. Viele Flüchtlinge kämen schon erkrankt nach Deutschland. Und bezogen auf die Hauptstadt und die Berliner Gesundheitsbehörden klingt seine Klage nicht anders als die des Bundesverbandes. „Es gibt keine flächendeckende Gesundheitsversorgung, keine gesteuerten Programme, keine Regelhaftigkeit. Das Vorhersehbare hat uns völlig unvorbereitet getroffen.“

Impfen in Eigeninitiative

Daher versuchten immer mehr seiner Kollegen nun, den Menschen in Eigeninitiative zu helfen. Eine Privatärztin aus Dahlem etwa kümmere sich mit der evangelischen Kirche um Flüchtlingskinder, ein Kollege aus Lichtenberg habe auf eigene Faust Impfstoffe organisiert. Man könne nicht darauf warten, dass die Flüchtlinge in die Arztpraxen kämen, sagt Senger. Das geschehe zwar auch, aber meist erst dann, wenn die Kinder ernsthaft erkrankt oder die Aufnahmeverfahren durchlaufen seien.

Die Berliner Ärztekammer nannte die medizinische Versorgung der neu ankommenden Flüchtlinge in der Hauptstadt "desolat" und die hygienische Situation für die auf dem Gelände des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Campierenden "prekär und beispiellos".

Ärztekammer sieht in Berlin "unhaltbare Zustände"

Das Land sei aufgefordert, diese "unhaltbaren Zustände" unverzüglich zu beenden, hieß es in einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme. Dringend nötig sei eine ausreichende primärärztlichen Versorgung (insbesondere für Allgemeinmedizin, Pädiatrie, Gynäkologie, Dermatologie und Psychiatrie) sowie ein "Medikamentenbudgets, das eine adäquate medizinische Versorgung ermöglicht". Außerdem müssten hygienische Mindeststandards eingehalten und genügend Toilettenanlagen, Waschgelegenheiten, Duschen, Baby- und Hygieneartikel bereitgestellt werden. Die Verantwortung dafür liege "bei den staatlichen Institutionen".

Rainer Woratschka

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