zum Hauptinhalt
Eva Kor bei Günther Jauch.
© dpa

Auschwitz-Überlebende Eva Kor bei Günther Jauch: Keiner muss sich für sein Verzeihen rechtfertigen

Mit Oskar Gröning, dem Buchhalter von Auschwitz, ist da plötzlich ein NS-Täter, der spricht und um Entschuldigung bittet. Und plötzlich ist da eine Überlebende, die ihren Frieden mit der Vergangenheit gemacht hat und für Vergebung plädiert. Markiert das einen Bitburg-Moment? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Kann es falsch sein, jemandem zu verzeihen? Die Frage klingt absurd. Verzeihen können gilt als  Tugend, die manchmal übermenschliche Kraft erfordert, aber nie verkehrt ist. Vor neun Jahren wurde in einer Schule der Amish-Gemeinde in der Kleinstadt Nickel Mines im US-Bundesstaat Pennsylvania ein Verbrechen verübt. Die Amish sind Nachfahren deutsch-schweizerischer Einwanderer und legen großen Wert auf das Verzeihen. Schlimm ist nicht, was man selbst erleidet, sagen sie, schlimm ist nur, was man anderen zufügt.

Der junge Milchwagenfahrer Charles Carl Roberts, der nicht der Gemeinschaft der Amish angehörte, drang in deren Schule ein, befahl den Jungen und Erwachsenen, den Raum zu verlassen, tötete anschließend fünf Mädchen und erschoss sich am Ende selbst. Wie reagierten nun die tief religiösen Amish auf das Massaker? Noch am Abend sagte der Großvater eines der ermordeten Kinder über den Amokläufer: „Wir dürfen nichts Böses über diesen Mann denken.“ Der Vater eines anderen Kindes ergänzte: „Auch er hatte eine Mutter, eine Frau und eine Seele - und jetzt steht er einem gerechten Gott gegenüber.“ Etwa dreißig Amish-Mitglieder nahmen an der Beerdigung von Roberts teil. Ein Jahr später spendete die Amish-Gemeinde Geld für die Witwe des Amokläufers.

Im Prozess gegen den „Buchhalter von Auschwitz“, dem früheren SS-Unteroffizier Oskar Gröning, war es gleich am Anfang zu einer bewegenden Szene gekommen. Eva Kor, die als Zehnjährige in Auschwitz gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester für medizinische Versuche missbraucht worden war, umarmte den Angeklagten und reichte ihm die Hand. Vor Gericht beteuerte sie, allen ehemaligen Nazis vergeben zu haben. Bereits vor dem Prozess hatte sie Rainer Höß, den Enkel des Kommandanten von Auschwitz, symbolisch „adoptiert“.

Dem Publikum gefiel das, an mehreren Stellen applaudierte es den Ausführungen der Überlebenden

Daraufhin wurde Eva Kor zu „Günther Jauch“ eingeladen, wo sie vor einem Millionenpublikum ihre Botschaft des Verzeihens erneuerte. Dabei wechselte sie zwischen dem Verzeihen als persönlichem Akt und dem Verzeihen als richtigem Akt, von dem sie sich appellative Wirkung erhoffte. Dem Publikum gefiel das. An mehreren Stellen applaudierte es den Ausführungen der Überlebenden („Ich bin kein Opfer, sondern Überlebende“). Das wiederum hat nun zu einem Zerwürfnis zwischen Eva Kor und 49 Nebenklägern in dem Verfahren geführt. Sie werfen Eva Kor eine eigenmächtige Rehabilitierung Grönings und eine „medial inszenierte Verzeihung“ des Angeklagten vor.

Von der Umarmung Grönings durch Eva Kor im Gerichtssaal gibt es ein Foto, das viele Stereotype über NS-Prozesse auf den Kopf stellt. Plötzlich ist da ein Täter, der nicht schweigt oder leugnet, sondern spricht und um Entschuldigung bittet. Der frühere SS-Mann, dem Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen vorgeworfen wird, redet offen, sachlich und distanziert über das, was war. Und dann ist da plötzlich eine Überlebende, die ihren Frieden mit der Vergangenheit gemacht hat, das Strafverfahren gegen Gröning ablehnt und für Vergebung plädiert.

Zeigt der Beifall bei Jauch, dass damit ein Bedürfnis in Deutschland erfüllt wird – vielleicht nicht nach einem faktischen, aber nach einem emotionalen Schlussstrich? Der reuige Täter und die verzeihende Überlebende markieren zumindest eine Art Bitburg-Moment: die Versöhnung über den Gräbern. Anders als damals sogar authentisch und nicht bloß symbolisch. Insofern ist die öffentliche Inszenierung des Verzeihens mehr als eine großherzige persönliche Geste, die wohl unbeabsichtigt das Gros der Nebenkläger als irgendwie rachsüchtig erscheinen lässt. Nein, in diesem Fall transportiert das öffentliche Verzeihen auch die Aufforderung, die ganze Sache zu einem gewissen Abschluss zu bringen.

Das kann und darf man Eva Kor nicht vorwerfen. Keiner muss sich fürs Verzeihen rechtfertigen, niemals!, keiner muss sich fürs Nichtverzeihen rechtfertigen. Im Land der Täter den Überlebenden und Nachfahren der Opfer ihre Gefühle vorzuschreiben, wäre so anmaßend wie infam. Der Streit zwischen ihr und den Nebenklägern ist nur jenseits des Auschwitz-Prozesses von Bedeutung. Er illustriert, dass Überleben immer schwieriger ist als Leben.

Zur Startseite