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Das Virus ist das einzige, was es derzeit im Schaufenster gibt. Was macht das mit der "Gesellschaft der Singularitäten"?
© Frank Rumpenhorst/dpa

Das Coronavirus und die Gesellschaft: Keiner hortet Sushi

Oberflächlich betrachtet macht Corona die Gesellschaft gleicher. Warum Privilegien trotzdem stärker sind als das Virus. Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Es kann jeden treffen. Dieses Mantra wiederholen Virologen nun seit Wochen. Jeder kann sich infizieren, jeder das Virus (unbemerkt) weitergeben. Vor dem Virus sind alle gleich und gleich wichtige Teile eines Kollektivs, des Weltimmunsystems. Egal, wo Sie wohnen, egal, ob Sie Ihr Wohnzimmer bei Ikea eingerichtet haben oder bei Ligne Roset: Da sollten Sie jetzt bleiben, denn Sie! Können. Es. Kriegen.

Was macht das Coronavirus mit der "Gesellschaft der Singularitäten"?

Biologisch betrachtet nivelliert die Krise die Unterschiede zwischen den Menschen. Aber heißt das, dass wir auch sozial irgendwie „gleicher“ werden? Oder, anders gefragt: Was macht das Virus mit der „Gesellschaft der Singularitäten“?

Die „Gesellschaft der Singularitäten“ ist der Titel eines Buches des Soziologen Andreas Reckwitz. Es ist 2017 erschienen und eine der einflussreichsten Gesellschaftsanalysen der vergangenen Jahre. Viele Politiker haben es gelesen. Reckwitz stellt darin fest, die spätmoderne Gesellschaft sei von einer „Krise des Allgemeinen“ geprägt. Von der industriellen Mittelstandsgesellschaft des 20. Jahrhunderts unterscheide sie sich vor allem dadurch, dass „Einzigartigkeit“ als höchster Wert gelte. Dabei geht es laut Reckwitz allerdings nicht um echte Individualität, um das So-Sein, wie man eben ist, sondern um eine „fabrizierte“ Individualität, um Unterscheidbarkeit und Abgrenzung.

Die Instagram-Gesellschaft muss die eigene Couch fotografieren

Reckwitz beschreibt eine erbarmungswürdige Instagram-Gesellschaft, in der alle wie Junkies ständig mit dem Konsum und der Zurschaustellung von Objekten (Kleidung, Handys, Autos) oder Ereignissen und Orten (Reisen, Restaurantbesuchen) beschäftigt sind, süchtig nach Distinktion. Es ist eine Gesellschaft, die durch ihren Einzigartigkeitswahn hysterisch und getrieben geworden ist – und vor allem: vereinzelt und unzufrieden. Reckwitz diagnostiziert gleich drei Krisen, die aus dem Hyperindividualismus entstehen: eine Krise der Anerkennung, also eine extreme Ungleichverteilung der Aufmerksamkeit zwischen Menschen, die die Jobs und die Bildung haben, um im Überbietungswettbewerb um Einzigartigkeit mitzumischen. Zweitens eine Krise echter Selbstverwirklichung, denn die dauerhafte Selbstinszenierung führt zu tiefer Erschöpfung. Und drittens eine Krise des Politischen: Die Politik, so Reckwitz, habe Steuerungsmöglichkeiten an Ökonomie und Technologie verloren. Auf diese Gesellschaft trifft nun das Virus. Was passiert mit ihr – und was mit Reckwitz’ Bild davon?

Hintergrund über das Coronavirus:

Was das hysterische Pflegen distinkter Lebensstile angeht, hat die Krise zunächst tatsächlich einen nivellierenden Effekt. FDP-Chef Christian Lindner sei neulich noch mal schnell bei einem dieser kühl-eleganten Berliner Japaner gewesen, prangerte neulich die „Bild“ an. Damit ist es jetzt erst mal vorbei. Alle Reisen sind abgesagt (ergo auch Instagram), beim Hamstern besinnt man sich auf das Wesentliche (Nudeln, Kartoffeln, H-Milch) und hält sich in der Kernfamilie aneinander fest, in der eh alle wissen, wie man ohne Make-up aussieht. Das Virus beendet, zumindest kurz, auch die „Anerkennungskrise“. Für einen Augenblick erhalten Menschen in Berufen Aufmerksamkeit, über die sonst zu selten gesprochen wird: Verkäuferinnen, Altenpfleger, Krankenschwestern.

Die Politik gibt ein mächtiges Comeback

Die Politik gibt unterdessen ein mächtiges Comeback: Mit milliardenschweren Programmen zum Anleihenkauf macht die EZB Krisenspekulanten einen Strich durch die Rechnung, die Bundesregierung hilft Kleinstunternehmern und Mietern. Überhaupt ist die deutsche Groko selten einig und handlungsfähig. Ob die nötige „Blitzkollektivierung“ gelingt, um die Infektionskurve abzuflachen, ist offen – aber nicht ausgeschlossen, immerhin.

Doch die Krise erinnert (auch schon in ihrem jetzigen frühen Stadium) daran, dass all die „Hyperindividualitäten“ nur Ausdruck tieferer, hart materieller Unterschiede sind. Jetzt, da das Geflirr der „Singularitäten“ kurz mal abgeschaltet ist, sieht man die echten Ungleichheiten klarer: Echte – materielle und immaterielle – Privilegien werden bestimmen, wie gut jemand durch die Krise kommt. Das Virus macht uns nicht gleich, im Gegenteil.

Die Wissens- und Geistesarbeiter denken sicher vom Home-Office - die Verkäuferinnen müssen an die Virusfront

In den nächsten Wochen werden die Wissens- und Geistesarbeiter vom Homeoffice aus denken – was Babysitter und Verkäuferinnen und Polizistinnen und LKW-Fahrer ihnen ermöglichen werden. Es wird Kinder geben, die auch bei Ausgangssperren noch in Gärten spielen können – und solche, die sich mit fünf, sechs Personen eine Hochhauswohnung teilen. Es wird Eltern geben, die Lernmaterial bestellen und mit ihren unbeschulten Kindern üben. Und solche, die das schlicht nicht schaffen. Es wird Menschen geben, die etwas auf der hohen Kante haben – und jenes Drittel der Deutschen, das keine Rücklagen hat, weil am Ende des Monats nie etwas übrig bleibt.

Das Coronavirus legt echte Unterschiede frei: Punktsieg für die Materialisten

In den vergangenen Jahren sind in der Debatte um die Ursachen von Populismus und Politikverdrossenheit immer wieder „Materialisten“ und „Kulturalisten“ aneinandergeraten. Wo nach den Ursachen suchen? In den auch von Reckwitz beschriebenen Kränkungserfahrungen – oder in den materiellen Ungleichheiten? Beides ist wichtig und richtig – das Drama und gleichzeitig auch die Chance der Krise aber liegen darin, dass sichtbar wird, welche Ungleichheiten existenziell sind. Und dass die Politik zeigen kann, dass sie noch weiß, wie man damit umgeht.

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