SPD-Analyse: Keine Sprache, kein Konzept, kein Profil
Mutig ist es, dass sich die SPD von Experten ihre Fehler der Wahlkampagne 2017 analysieren lässt. Doch die Fehler haben System - und wirken weiter.
Für die SPD war der Absturz ihres Kanzlerkandidaten Martin Schulz vom Hoffnungsträger zum Wahlverlierer mit dem schlechtesten Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte im September 2017 eine schreckliche Erfahrung, von der sich die Partei bis heute nicht erholt hat. Rund 16 Monate nach der umjubelten Ausrufung des ehemaligen Präsidenten des Europaparlaments zum Merkel- Herausforderer hat eine externe Expertengruppe im Auftrag der SPD nun eine Untersuchung des Debakels vorgelegt, die in ihrer schonungslosen Urteilsfreude und Gründlichkeit in der jüngeren deutschen Parteigeschichte wohl ohne Beispiel ist. Die SPD, so viel kann man sagen, hat sich diese Analyse gründlich verdient.
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie mit dem Titel "Aus Fehlern lernen" lauten: Martin Schulz hätte 2017 womöglich sogar Kanzler werden können. Doch nicht nur Fehler bei der viel zu späten Nominierung des Kandidaten und in der Wahlkampfführung des Willy-Brandt- Hauses im Lauf der Kampagne führten direkt ins Wahldesaster, sondern vor allem seit Jahren aufgebaute, systemische Schwächen der Partei. Die aber waren nicht nur eine Belastung im Wahljahr 2017, sondern verhindern mit Macht weiterhin, dass die einst so stolze Fortschrittspartei wieder weiß, was sie will, wieder selbstbewusst auftritt und Wähler überzeugt.
"In der öffentlichen Wahrnehmung ist die SPD zum Sanierungsfall geworden", heißt es in der Analyse, die Parteichefin Andrea Nahles am Montag vor Journalisten kommentierte, bevor der Parteivorstand darüber diskutierte. Nahles macht sich ausdrücklich nicht alle Befunde der Studie zu eigen, teilt aber zentrale Thesen. "Es fehlte ein klarer Kurs", sagte sie über die Kampagne 2017. Der Parteichefin, so machte sie deutlich, ist klar, dass sich das in wichtigen Fragen inhaltlich noch nicht geändert hat. "Wo es Widersprüche gibt, müssen die auch aufgelöst werden", kündigte sie an. Die Partei habe etwa begonnen, über das Verhältnis zu Russland und die Rolle der Ostpolitik als Orientierungsrahmen für heute zu debattieren, und werde auch die Diskussion über eine realistischere Migrations- und Flüchtlingspolitik "weitertreiben". Wie schwierig die Klärung werden dürfte, zeigt der Umstand, dass Nahles mit härteren Akzenten zum Thema heftige Kritik aus den eigenen Reihen provozierte.
SPD-Mitglieder fürchten die belanglosen E-Mails der Zentrale
Auch organisatorische Defizite will Nahles angehen. "Das Willy-Brandt- Haus leidet an konträren Kraftzentren", sagte sie. Bis zum Sommer soll die Parteizentrale deshalb so neu organisiert werden, dass sie nicht nur in Wahlkampfzeiten, sondern ständig kampagnenfähig ist. Danach wird eine Beratungsagentur die Abläufe untersuchen. Unzufrieden ist Nahles zudem mit der Fähigkeit der Partei zur "strategischen Kommunikation". Die sei "nicht auf der Höhe der Zeit".
Auch aus den späten Ausrufungen der Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück 2012 und Martin Schulz 2017, die der Bericht im Kapitel über die Wahlkampagne des vergangenen Jahres unter dem Titel "Schiffbruch mit Ansage" als Kardinalfehler einstuft, will die Parteichefin ihre Lehren ziehen. "Wir wollen die Spitzenkandidatur früher und geordneter klären, als das bisher der Fall gewesen ist." Wann die Entscheidung fallen soll, wollte Nahles aber nicht verraten.
Hart urteilt die Studie in diesem Zusammenhang über den damaligen Parteichef Sigmar Gabriel. Das Erstzugriffsrecht des Vorsitzenden "wurde von Sigmar Gabriel zwei Mal missbraucht und damit die gesamte Partei Geisel seiner Launen, Selbstzweifel und taktischen Manöver". Auch 2016 sei der der Termin der Entscheidung mehrfach intern angekündigt und wieder verschoben worden - und zwar so lange, bis keine Chance mehr für eine fundierte Vorbereitung der Kampagne vorhanden gewesen sei. Ganz allein sei Gabriel aber nicht verantwortlich: "Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die gesamte Parteiführung nicht den Mut hatte, dem Parteivorsitzenden Einhalt zu gebieten."
Wahlkampfguru Frank Stauss, einer der Co-Autoren der Untersuchung, betonte, dass sein Team nicht nur das vergangene Jahr analysiert habe, sondern Prozesse, die sich "über Jahrzehnte hinziehen". Dazu gehören die Unfähigkeit der Partei, eine klare, überzeugende Sprache zu finden, eine beängstigende Entfremdung von Führung und Mittelbau der SPD, ein "riesiges Kommunikationsloch" im Umgang mit Presse und Öffentlichkeit, teils schlechte Regierungspraxis sowie falsche Rücksichtnahme bei der Prägung politischer Botschaften der SPD, die sich durch "Selbstfesselung" (Ko-Autor Horand Knaup) profillos machte.
Ganz konkret beschreiben die Autoren haarsträubende Fehler der Parteizentrale. "Mit der Schwemme belangloser Schreiben ist zumindest teilweise auch zu erklären, warum viele Mitglieder sich hartnäckig weigern, der Partei ihre Mailadresse zu überlassen", heißt es da. Oder: "Für die Wahlkreis-KandidatInnen wurden Videos produziert, die in der Online-Abteilung – vor allem wegen der Länge – komplett durchfielen. Sie wurden dann gar nicht erst online gestellt." Externe Dienstleister hätten "zuweilen – und fast unbemerkt – ihre Arbeit eingestellt, weil sie sich überflüssig fühlten und möglicherweise auch waren".