Streit um ein Stück Stoff: Wir brauchen ein wertschätzendes Verständnis von Religionen
Das Neutralitätsgesetz ist mit guten Absichten entstanden. Geholfen hat es allerdings nichts, schreibt der Antidiskriminierungsbeauftragte des Berliner Senats.
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum „Kopftuchstreit“ ist als ein Meilenstein in der jahrzehntelang andauernden Diskussion um die Rolle von Religion im öffentlichen Dienst zu sehen. Es steht außer Frage, dass Berlin auch in hohem Maße durch religiöse Vielfalt geprägt ist. Dies kann durchaus Herausforderungen schaffen, ein Umgang will gelernt sein.
Seit vielen Jahren engagiere ich mich insbesondere gegen Antisemitismus und für die jüdische Selbstverständlichkeit, die selbstverständlich auch einhergeht mit jüdischer Sichtbarkeit in Deutschland. Dies tue ich als Pädagoge, als Berliner, als Moslem.
Oft habe ich problematisiert, dass mein Heimatbezirk Neukölln keine No-Go-Area für Jüdinnen und Juden sein darf und die Kippa dort und überall anderswo zum Alltag gehören muss. Ein Gesetz, das die Kippa aus dem öffentlichen Dienst verbannt, steht so diametral zu meinem Engagement, aber auch zur zumindest gewünschten Realität unserer Stadt.
Das Neutralitätsgesetz entstand vor ca. 15 Jahren durchaus mit der guten Absicht, damals eine zeitgemäße Klarstellung und somit auch eine Orientierungshilfe zu schaffen, um religionsbezogene Konflikte (z.B. in der Schule) zu reduzieren, unterdrückten Frauen zu helfen und präventiv auch gegen Radikalisierung zu wirken. Heute weiß man – dieser Effekt blieb aus.
Was sich seitdem verändert hat, ist der Alltag kopftuchtragender Frauen. Es wird kaum möglich sein, eine Muslima zu finden, die nicht aufgrund ihrer Religion diskriminiert wurde. Die Rolle des Neutralitätsgesetzes ist hier noch zu erforschen.
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Einer nachvollziehbaren Sorge vor politischer, in diesem Falle islamistischer, Indoktrination von Lehrkräften darf nicht durch eine pauschale Vorverurteilung und Isolation religiöser Minderheiten begegnet werden. Im Einzelfall muss überprüft werden, ob Lehrkräfte ihr Amt zu extremistischer Missionierung missbrauchen. Das gilt für jegliche Religionen und Weltanschauungen.
Mit dem Neutralitätsgesetz ist nichts getan gegen Rechtsextremismus
Als Antidiskriminierungsbeauftragter erlebe ich täglich rassistische Haltungen im Lehrkörper. Auch hier hat das Neutralitätsgesetz keinerlei Abhilfe geschaffen, sondern ignoriert sogar bestimmte Ideologien, die nicht an einer Kopfbedeckung oder einem anderen äußeren Merkmal zu erkennen sind. Mit dem Neutralitätsgesetz ist nichts getan gegen Rechtsextremismus.
Die Sinnhaftigkeit eines weiteren Festhaltens am Neutralitätsgesetz ist gründlich zu überprüfen. Eine Orientierung dafür und für das zukünftige Vorgehen könnten die wegweisenden Entwicklungen um das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz bieten.
Die Frage nach der Sinnhaftigkeit ist nicht nur dadurch berechtigt, dass das Verfassungsgericht hier seine Position schon vor drei Jahren dargelegt hat und es kaum Aussicht auf juristischen Erfolg gibt. Sondern vor allem, weil das Neutralitätsgesetz in seinem Kern eine diskriminierende Annahme trägt: dass alle Religionen per se schädlich für den Schulfrieden sind und die Neutralität der Schulen gefährden.
Auch Forderungen nach Volksbegehren aus der rechten Ecke zum Erhalt des Neutralitätsgesetzes in seiner jetzigen Form wären eine Fortsetzung, gar eine Steigerung der strukturellen Diskriminierung, da eine Mehrheit sich anmaßen würde, die verfassungsgegebenen Rechte von Minderheiten zu beschneiden.
Wir müssen den Umgang mit religiöser Vielfalt neu erlernen
In Berlin und in ganz Deutschland brauchen wir ein wertschätzendes Verständnis zu Religionen und Religiosität, eines, das durch Akzeptanz geprägt ist. Wir müssen den Umgang mit religiöser Vielfalt neu erlernen.
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Nur so kann zum Beispiel die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie denen gerecht werden, für die sie dienstleistend zuständig ist: den Schüler*innen, ihren Eltern dem Lehrpersonal und allen anderen Angestellten und Beamten der Berliner Bildungseinrichtungen.
Denn wir können uns unsere Schülerinnen und Schüler nicht backen. Doch wir können uns für sie interessieren, ihnen mit Respekt begegnen und sie akzeptieren, mit all dem, wer sie sind und was sie ausmacht. So klappt’s auch mit dem Schulfrieden.
Die erhitzten Debatten im Feuilleton, in Talkshows haben uns nicht wirklich vorangebracht. Beim sich endlos hinauszögernden Bau des Flughafens BER oder bei der ausbleibenden Digitalisierung haben wir Berlinerinnen und Berliner eine gewisse Toleranz und können sogar humorvoll damit umgehen. Doch bei Diskriminierung muss der Spaß aufhören.
Derviş Hızarcı
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