„Würde mein gesundes Kind nicht impfen lassen“: Kassenärzte-Chef nennt breite Kinderimpfungen „rücksichtslos“
Der Orthopäde Gassen liegt mit seiner Einschätzung auf der Linie der Stiko. Doch Epidemiologen wie Karl Lauterbach sehen das anders.
Andreas Gassen, Orthopäde und Chef der Kassenärztlichen Vereinigung (KBV), hat sich gegen das flächendeckende Impfen von Kindern und Jugendlichen ausgesprochen. „Das Impfrisiko ist für gesunde Kinder und Jugendliche, auch wenn es sehr gering ist, wohl höher als das einer Corona-Infektion“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. „Wenn mein Kind zwölf oder dreizehn und gesund wäre, würde ich es nicht impfen lassen.“
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Mit dieser Einschätzung liegt Gassen auf einer Linie mit der Ständigen Impfkommission (Stiko). Diese hatte vergangene Woche keine generelle Impfempfehlung für gesunde Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren ausgesprochen, sondern nur für Heranwachsende mit bestimmten Vorerkrankungen.
„Es geht um eine Abwägung von Nutzen und möglichem Risiko“, hatte der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens gesagt. Durch die relativ kleine Gruppe von rund 1100 Kindern und Jugendlichen in der Zulassungsstudie und einen Beobachtungszeitraum von nur zwei Monaten seien mögliche schwere Nebenwirkungen nicht hinreichend auszuschließen. Dazu sei das Risiko für 12- bis 17-Jährige, schwer an Covid-19 zu erkranken, sehr gering.
Geimpft werden sollten etwa Kinder mit diesen Vorerkrankungen:
- Adipositas
- angeborene oder erworbene Immundefizienz oder relevante Immunsuppression
- angeborene zyanotische Herzfehler
- schwere Herzinsuffizienz
- schwere pulmonale Hypertonie
- chronische Lungenerkrankungen, bei der die Lungenfunktion anhaltend eingeschränkt ist
- chronische Niereninsuffizienz
- chronische neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen
- maligne Tumorerkrankungen
- Trisomie 21
- syndromale Erkrankungen mit schwerer Beeinträchtigung
- schlecht eingestellter Diabetes mellitus
Gassen kritisiert zudem, auch angesichts der immer noch knappen Impfstoffe sei es zu früh, Jugendliche in die Impfkampagne einzubeziehen. „Wenn wir in drei, vier Monaten feststellen, wir haben eine Durchimpfung von 70 bis 75 Prozent der erwachsenen Bevölkerung erreicht, damit praktisch keine schweren Erkrankungen mehr, nur noch wenig Hospitalisierungsfälle, und nur in der Gruppe der Sechs- bis Zwölfjährigen ist die Inzidenz relativ hoch - dann wird man das aus meiner Sicht einfach hinnehmen müssen.“
Außerdem warnt der Orthopäde, in der Pandemie erneut Kinder und Jugendliche zu Leidtragenden zu machen. Es sei falsch, mit Impfungen bei ihnen die Herdenimmunität absichern zu wollen.
Doch genau hier widersprechen Epidemiologen wie Karl Lauterbach. Der SPD-Gesundheitsexperte befürchtet eine Infektionswelle bei Kindern im Herbst – und mahnt daher zu schnellen Impfungen auch bei Kindern. „Bei normalem Regelbetrieb werden wir ohne Impfung in den Schulen sehr viele infizierte Kinder sehen“, sagte er jüngst in der TV-Sendung „Maybrit Illner“.
Er hält es demnach zwar nicht für zu gefährlich, Kinder nach den Sommerferien auch ungeimpft wieder in die Schule zu lassen. Doch er mahnte: „Ich finde es nicht richtig, dass wir sagen, Erwachsene schützen wir durch Impfung, aber Kinder schützen wir, indem sie sich infizieren.“
Die Stiko habe in den Vordergrund gestellt, dass man die langfristigen Schäden kennen müsse und erst dann die Impfung empfehlen könne. „Aber diese Schäden sehe ich erst in anderthalb Jahren“, fügte Lauterbach hinzu. Dadurch werde es dann „auf absehbare Zeit, wahrscheinlich für das ganze Jahr“ keine Impfungen für Kinder geben. Und das halte er für „falsch“.
Ähnlich wie in anderen Altersgruppen klagen Kinder nah einer Corona-Impfung über:
- Schmerzen an der Einstichstelle (79 bis 86 Prozent der Kinder nach der ersten, beziehungsweise zweiten Dosis)
- Müdigkeit (60 bis 66 Prozent)
- Kopfschmerzen (55 bis 65 Prozent)
- Fieber (20 Prozent nach der zweiten Impfung)
[Lesen Sie hier: Entscheidungshilfe für alle Eltern - Sollte ich mein Kind gegen Corona impfen lassen? (T+)]
Tatsächlich wäre aus epidemiologischer Sicht durchaus etwas damit zu gewinnen, alle Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren und nicht nur die vorerkrankten zu impfen. Das sieht auch die Stiko selbst so: Im Zeitraum Juni bis Dezember könnten demnach 89.000 Meldefälle verhindert werden, etwa 1300 Aufenthalte auf Intensivstationen und etwa 400 Todesfälle in der Gesamtbevölkerung. Der Effekt beruhe im Wesentlichen auf dem indirekten Schutz der Erwachsenen.
Der Gesundheitswissenschaftler Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems in Österreich betont zudem einen weiteren Aspekt. In der Debatte über die Stiko-Entscheidung sei es in der Kommunikation stets der Hinweis wichtig, dass sie Stiko-Empfehlung vor allem auf einem Fehlen von Evidenz beruht. Der klinische Epidemiologe meint: „Es geht in der öffentlichen Diskussion oft verloren, dass die Nicht-Empfehlung nicht bedeutet, die Datenlage würde vermehrten Schaden anzeigen.“