Risiko der Unkenntnis: Wie die Stiko ihre Entscheidung zu Kinderimpfungen begründet
Die Impfkommission verzichtet auf eine generelle Impfempfehlung für 12 bis 15-Jährige. Dabei hätte die Impfung Jüngerer Vorteile.
Rund 452.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut eine Impfung gegen das Coronavirus Sars-Cov-2. Das sind die rund elf Prozent der 12- bis 17-Jährigen, die eine Vorerkrankung wie etwa Asthma aufweisen, wie das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung mitteilte.
Nach Einschätzung der Stiko besteht bei ihnen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19. Außerdem empfiehlt sie die Impfung für Kinder, die Kontakt zu schwer Vorerkrankten haben. Für alle anderen gilt, dass sie sich auf eigenen Wunsch nach ärztlicher Aufklärung und „bei Risikoakzeptanz“ impfen lassen können.
Doch welche Risiken bestehen, ist bislang weitgehend unbekannt. Eltern müssen das bei der Entscheidung für eine Impfung ihres Kinds akzeptieren und können sich nicht auf die Beurteilung des Expertengremiums stützen. Die Stiko sieht bislang keine ausreichende Evidenz für eine allgemeine Empfehlung, aber rät auch nicht von der Impfung ab. Stiehlt sich das Gremium aus seiner Verantwortung?
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Kosten-Nutzen-Betrachtung mit Unbekannten
Sie hält sich zumindest alle Türen offen: „Es kann sein, dass sich die Empfehlung auch noch ändert“, sagte Stiko-Vorsitzender Thomas Mertens, selbst Virologe, auf einem Pressebriefing des Science Media Centers Deutschland. Die Stiko gehe vor, wie es in der Wissenschaft üblich ist. „Wir entscheiden auf der Basis der besten verfügbaren aktuellen Evidenz“, sagt Mertens.
Doch die ist bislang Mangelware. Langzeitdaten zu Verträglichkeit sowie Schutz und Nebenwirkungen der Impfung gibt es in der aktuellen Pandemie nicht. Mit Zahlen, die zeigen, wie viele Kinder und Jugendliche in anderen Ländern geimpft worden sind, ist dem Gremium auch nicht weitergeholfen. „Wir müssen wissen, wie es mit Nebenwirkungen ist“, sagt Mertens.
Derzeit ist die Inzidenz, die Verbreitung von Covid-19, vergleichsweise niedrig. Der individuelle Nutzen eines Jugendlichen, sein Schutz vor einem schweren Verlauf und möglichen Langzeitfolgen der Erkrankung, wird daher geringer eingeschätzt als die eventuellen Gefährdungen durch die Impfung.
Pubertierende sollten gesondert betrachtet werden
Dagegen wäre aus epidemiologischer Sicht durchaus etwas damit zu gewinnen, alle Kinder und Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren und nicht nur die vorerkrankten zu impfen: 89.000 Meldefälle, etwa 1300 Aufenthalte auf Intensivstationen und etwa 400 Todesfälle in der Gesamtbevölkerung im Zeitraum Juni bis Dezember könnten verhindert werden, berichtet die Stiko. Der Effekt beruhe im Wesentlichen auf dem indirekten Schutz der Erwachsenen.
„Er ist nicht ausreichend, um daran eine ganze Empfehlung aufzuhängen“, sagt Mertens. Die Zahlen der Intensivbehandlungen und Todesfälle werden in den zugrundeliegenden Modellrechnungen tendenziell überschätzt. Sie dienen eher dazu, verschiedene Szenarien vergleichen zu können.
„Der Effekt wird dadurch weiter abgeschwächt, dass die gefährdeten Personen in der Gesamtbevölkerung noch geimpft werden können“, sagt Reinhard Berner vom Dresdner Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, der die Stiko als externer Sachverständiger beraten hat. Solange Kinder und Jugendliche nicht standardmäßig geimpft werden und die Impfstoffe nur begrenzt verfügbar sind, können die Erwachsenen schneller durchgeimpft werden. „Es erschien nicht sinnhaft, Millionen Dosen für die Kinder zurückzulegen und damit die Eltern nicht zu impfen“, sagt Mertens.
Berner verweist auf eine Besonderheit der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen: „Die Kinder sind mitten in der Pubertät, hormonelle Vorgänge im Organismus werden umgestellt, das ist keine unsensible Gruppe.“ Die Stiko sei gut beraten gewesen, diese Gruppe gesondert zu betrachten und das „Risiko der Unkenntnis der längerfristigen Wirkungen“ hoch zu bewerten.
Mangelnde Evidenz statt vermehrter Schäden
„Hier prallen zwei Perspektiven aufeinander“, sagte Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems in Österreich. Einerseits gebe es die epidemiologische Sichtweise, nach der es sinnvoll ist, möglichst viele Personen möglichst rasch zu impfen, um die Verbreitung des Virus einzugrenzen. Das schließt Kinder ein. Andererseits müsse in der evidenzbasierten Medizin sehr sorgfältig zwischen Nutzen und Risiken abgewogen werden. „Man muss einfach durchdenken, ob es einen Netto-Nutzen gibt“, sagte Gartlehner. Er stimmt der Stiko darin zu, ihn in der derzeitigen Situation als gering zu bewerten.
Für die Kommunikation der Entscheidung sei es aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie vor allem auf einem Fehlen von Evidenz beruht. „Es geht in der öffentlichen Diskussion oft verloren, dass die Nicht-Empfehlung nicht bedeutet, die Datenlage würde vermehrten Schaden anzeigen“, sagt Gartlehner.
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