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Kleiner Pieks, großer Schutz? Bei der Grippeimpfung ist die Treffsicherheit nicht garantiert.
© picture alliance / dpa

Virologen empfehlen teureren Impfstoff: Kassen sparen am Grippeschutz

Experten kritisieren, dass aus Spargründen nicht die optimalen Grippeimpfstoffe verwendet werden. Vor allem für Kinder ist das gefährlich – und kommt am Ende womöglich alle teurer.

Aus Kostengründen erhalten Kassenpatienten in Deutschland bei der Grippeschutzimpfung einen Impfstoff, der weniger wirksam ist als medizinisch möglich. Diesen Vorwurf erheben renommierte Experten vor dem Beginn der diesjährigen Grippesaison. Es sei „skandalös“, dass man hierzulande, nur um Geld zu sparen und obwohl es Alternativen gebe, „bewusst in Kauf nimmt, dass die verwendeten Impfstoffe nicht gut wirken“, sagte der Wiesbadener Infektiologe und Klinikdirektor Markus Knuf dem Tagesspiegel.

Der Aufruf zur Grippeimpfung sei nur sinnvoll, wenn man sich für Impfstoffe mit höchster Wirksamkeit und geringster Nebenwirkungsrate entscheide, betonte Knuf. Dem allerdings ist derzeit keineswegs so. Für Kassenpatienten kommen hierzulande im Regelfall bisher nur Dreifachimpfstoffe gegen Influenza zum Einsatz. Sie enthalten zwei Subtypen des Influenza-A-Virus und nur eine Linie des Virusstamms B.

Vierfachimpfstoffe kommen kaum zum Einsatz

Sogenannte quadrivalente Impfstoffe, die zusätzlich noch eine weitere B-Virus-Variante abdecken, sind zwar in Deutschland ebenfalls zugelassen, finden aber kaum Verwendung. Ihr Marktanteil betrug im vergangenen Jahr gerade mal 0,9 Prozent.

Das liegt, wie Virologen betonen, allein am Preis. Dreifachimpfstoffe gegen Influenza schlagen, je nach dem Verhandlungserfolg der Kassen, pro Person im Schnitt mit etwa acht Euro zu Buche. Vierfache kosten mit gut 20 Euro mehr als das Doppelte. Es geht also, bundesweit hochgerechnet, um eine Kostendifferenz im dreistelligen Millionenbereich.

Die Krankenkassen sind gehalten, möglichst wirtschaftlich zu agieren. Sie schließen mit den Herstellern Rabattverträge und entscheiden sich für die preisgünstigsten Angebote. „Der teurere Vierfachimpfstoff hat“, so fasst es der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut, Jan Leidel, zusammen, „unter diesen Bedingungen in unserem Krankenversicherungssystem keine Chance.“

Dabei wäre die Abdeckung von zwei Virus-B-Stämmen aus Expertensicht medizinisch durchaus sinnvoll. B-Viren verursachten „etwa 30 Prozent der Krankheitslast durch die Influenza“, sagt der Direktor des Jenaer Instituts für Virologie und antivirale Therapie, Andreas Sauerbrei. Ein Vierfachimpfstoff gegenüber Influenza B biete schlicht besseren Schutz.

Wären 400 000 Grippeinfektionen vermeidbar?

Die Kritiker können sich diesbezüglich auch auf eine Simulation des Tübinger Mathematikers Martin Eichner berufen. Demnach würde die Verwendung eines teureren Vierfachimpfstoffs pro Jahr in Deutschland knapp 400 000 Grippeinfektionen verhindern. Laut "Ärztezeitung" soll die Hochrechnung noch im November bei einer Expertentagung in Mailand vorgestellt werden.

Bereits im vergangenen Winter hat sich der verwendete Grippeimpfstoff als nicht sehr wirksam erwiesen. Dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsinstitut zufolge verursachte diese Grippewelle einen volkswirtschaftlichen Schaden von rund 2,2 Milliarden Euro, das Bruttoinlandsprodukt sankt um 0,3 Punkte.

Das Problem bei den Grippeimpfungen ist, dass sie die kursierenden Viren oft nicht voll erfassen. Um den Herstellern genügend Zeit für die aufwändige Produktion zu lassen, muss sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jeweils schon zum Jahresanfang auf die Zusammensetzung des jeweiligen Impfstoffs für die nächste Grippesaison der Nordhalbkugel festlegen. Dabei liegen die Experten oft daneben.

"Die Treffsicherheit ist einem Würfeln nicht wesentlich überlegen"

„Die Treffsicherheit ist hinsichtlich Influenza B einem Würfeln nicht wesentlich überlegen“, gibt der oberste Impfexperte der Republik, Jan Leidel, offen zu. Influenzaviren nämlich haben die Fähigkeit, ihr Erbgut ständig zu verändern. Und bei den B-Viren kursieren neuerdings immer häufiger zwei Linien. In Australien sei dies derzeit gerade wieder so, sagt Leidel. Und dass eine ähnliche Konstellation für die Grippesaison auch hierzulande „nicht unwahrscheinlich“ sei. Die fast ausnahmslos verwendeten trivalenten Impfstoffe decken jedoch nur eine dieser B-Linien ab.

Ein Problem für die Bevölkerung. In sechs der letzten elf Influenza-Saisonzeiten, so resümierte der Virologe Peter Wutzler kürzlich in der „Münchner Medizinischen Wochenschrift“, habe es „keine Übereinstimmung zwischen dem vorherrschenden und dem im Impfstoff enthaltenen B-Stamm“ gegeben. Daher sei es „naheliegend“ gewesen, Vierfachimpfstoffe mit beiden B-Linien zu entwickeln.

Weniger Schutz vor allem für Kinder und chronisch Kranke

Kinder zum Beispiel erkrankten weit häufiger an Infektionen dieser Viren als Erwachsene. Das liegt daran, dass bis zu 70 Prozent der unter Zwölfjährigen noch über keine Antikörper gegen Influenza- B-Viren verfügen. Und es kann tödlich enden. Einer US-Studie zufolge waren 37 Prozent aller grippebedingten Todesfälle bei Kindern in den Jahren 2004 bis 2012 die Folge einer Influenza-B-Infektion.

Hinzu kommt, dass Kinder und Menschen mit geschwächtem Immunschutz differenziertere Impfstoffe benötigen würden – etwa solche, die nicht in Hühnereiweiß, sondern in Zellkulturen produziert oder mit Wirkverstärkern versehen sind. Aufgrund der Rabattverträge, mit denen die Kassen Geld zu sparen versuchen, bekommen sie diese nun aber in den meisten Fällen nicht mehr.

Auswahl durch Ärzte "praktisch abgeschafft"

„Durch die gesetzlich vorgeschriebene Ausschreibepraxis der Kassen ist die Impfstoffauswahl für den impfenden Arzt praktisch abgeschafft“, kritisiert Sauerbrei. Zwar müssen die Versicherer, nachdem es Ärger mit Lieferengpässen gab, inzwischen Verträge mit mindestens zwei Impfstoffherstellern schließen. Doch differenzierte Produkte werden nur in ganz besonderen, von den Ärzten aufwendig begründeten Ausnahmefällen, erstattet.

Am heftigsten betroffen durch die Sparmanöver sind Kinder zwischen zwei und sechs Jahren. Weil konventionelle Impfstoffe bei ihnen kaum wirken, gibt es eigens für sie entwickelte Nasensprays mit Lebendimpfstoffen – die gegen vier Vierenstämme schützen. Diese seien nachweislich „deutlich effektiver“, betont Stiko-Chef Leidel - und seine Kommission empfiehlt ausdrücklich, Kinder dieser Altersgruppe damit bevorzugt zu impfen. Daher müssten es die Kassen auch bezahlen, sagt Leidel. Doch regelhaft führe dies, wie der praktizierende Kinderarzt Knuf kritisiert, „dennoch nicht zu einer Kostenerstattung".

Am Ende könnten billigerer Impfschutz teurer werden

„Aus meiner Sicht kann man die Influenza nur wirksam bekämpfen, wenn die unterschiedliche altersabhängige Wirksamkeit der Impfstoffe auch für die impfende Ärzteschaft umsetzbar ist“, sagt der Jenaer Virologe Sauerbrei. Der Stiko-Chef äußert sich ebenfalls kritisch: Er sehe die Notwendigkeit, die Kassenausgaben zu begrenzen, sagt Leidel. Jedoch müsse man das Preis-Leistungs-Verhältnis beachten. Womöglich sei die Ersparnis am Ende höher, wenn man sich für teurere Impfstoffe mit besserer Wirkung entscheide.

Der höhere Preis könne jedenfalls „nicht rechtfertigen, dass man Kindern die etwaigen Nebenwirkungen von Impfstoffen zumutet, die in vielen Fällen gar nicht gut wirken“, findet Klinikdirektor Knuf. Wegen der hohen Krankheitslast und Ansteckungsgefahr wäre es aus seiner Sicht sinnvoll, auch Kleinkinder gegen Influenza zu immunisieren. Doch zu Impfstoffen mit derart schlechter Wirksamkeit könne er nicht raten.

Den Eltern sei zu empfehlen, bei den Kassen Druck zu machen. Und, wenn dies nicht fruchte, bessere Impfstoffe aus eigener Tasche zu finanzieren. Um medizinisch Sinnvolles selber zu bezahlen, sagt Stiko-Chef Leidel, sei man aber eigentlich nicht in einer Krankenkasse.

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