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Zwei, die gern solidarisch Geld für Europa ausgeben wollen: Merkel und Macron stellten jüngst ein 500-Milliarden-Euro-Porgramm vor.
© dpa

Das Ende einer Lebenslüge: Karlsruhes EZB-Urteil rüttelt Merkel & Co. auf

Die leise Drohung, der Bundesbank die Teilnahme an EZB-Kaufprogrammen zu verbieten, erzwingt einen neuen Umgang mit dem Euro - und das ist eine Chance. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Schumann

Die Verfassungsrichter sind schuld. Als Deutschlands höchstes Gericht Anfang Mai urteilte, der Rat der Europäischen Zentralbank und mit ihm gleich noch die Kollegen beim Europäischen Gerichtshof hätten ihre Kompetenzen überschritten, da hatten die Richter gewiss keine tiefgreifenden Veränderungen für die Europäische Union im Sinn.

Wie im Urteil nachzulesen ist, wollten sie lediglich den Ansichten der deutschen Banken- und Versicherungslobby mehr Geltung verschaffen, wonach der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB die Zinserträge zu tief gesenkt und die Immobilienpreise zu hoch gesteigert hat.

Der Vorwurf, die Zentralbanker hätten diese Konsequenzen nicht richtig bedacht und die „Verhältnismäßigkeit“ der Geldpolitik nicht ausreichend begründet, hatte sogar etwas Komisches. Schließlich untersuchen die vielen Ökonomen der Zentralbank genau das fortwährend und ihre Direktoren erklären und rechtfertigen die Ergebnisse regelmäßig vor dem Europäischen Parlament. Zudem folgt die EZB lediglich dem Muster aller anderen westlichen Zentralbanken und das Zinsniveau ist auch außerhalb des Euroraums nicht höher. Dafür mangelt es einfach Kreditnachfrage.

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Doch so begrenzt die ökonomische Perspektive der Karlsruher Richter ist, so revolutionär ist deren Wirkung. Denn die implizite Drohung, der Bundesbank die weitere Teilnahme an den Kaufprogrammen der EZB zu verbieten und damit das ganze Eurosystem zum Einsturz zu bringen, beendete auf einen Schlag die Lebenslüge der deutschen Konservativen beim Umgang mit der europäischen Gemeinschaftswährung.

Eisern hielten Angela Merkel und ihre Gefolgsleute in Union und SPD noch bis zuletzt an dem Glauben fest, die Eurozone könne dauerhaft ohne eine gemeinsame Fiskalpolitik auskommen, wenn nur die Regierungen aller Mitgliedsländer sparsam wirtschaften. Das war allerdings schon seit 2011 widerlegt, als die sparsamen Überschussstaaten Spanien und Irland nach dem Immobilien-Crash und der folgenden Bankenrettung binnen Monaten in die Überschuldung abstürzten.

Die EZB half den Schuldenstaaten mit niedrigen Zinsen

Gleichwohl konnten sie die Illusion weiter aufrecht erhalten, weil eben die EZB mit der ganzen Macht der Zentralbank die Zinsen für die höher verschuldeten Länder niedrig hielt und ihnen so ermöglichte, ihre Volkswirtschaften mittels staatlicher Nachfrage zu stabilisieren.

Das gleiche Phänomen wiederholte sich nun seit Ausbruch der Pandemie. Erneut verweigerten sich die Bundesregierung und in ihrem Windschatten die Niederländer und Österreicher einer gemeinsamen Kreditaufnahme für einen Rettungsfonds der Eurostaaten zu Gunsten der schwächeren – wohl wissend, dass die EZB tun würde,, was immer nötig ist“, um die Staatshaushalte in den von Corvid-19 besonders getroffen Ländern Italien und Spanien liquide und damit die Eurozone stabil zu halten.

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Aber genau das steht seit dem Verdikt aus Karlsruhe in Frage - und siehe da, die Zeit war reif für einen typischen Merkel-Moment: Aufschieben ging nicht mehr, darum schlossen sich die Kanzlerin und ihr Finanzminister Frankreichs Präsident Macron an und plädieren für einen um 500 Milliarden Euro aufgestockten EU-Haushalt zur Bekämpfung der Corona-Depression. Zu finanzieren über Anleihen, deren Zins und Tilgung alle EU-Staaten mit ihren Beiträgen leisten.

Vor allem aber soll die Auszahlung nach Bedarf und als Zuschuss und nicht als Kredit erfolgen, weil nur so den ärmeren Staaten zu helfen ist. Gewiss, das Konzept birgt hohe Risiken. Die Regierungen in den Niederlanden, Österreich, Schweden und Dänemark stellen sich bereits quer und wollen nur Kredithilfen vergeben, obwohl das für die Schuldenstaaten gar nicht tragbar ist. Ein  Kompromiss  könnte teuer werden. Für ihre notwendige Zustimmung werden auch die Autokraten in Ungarn und Polen schmutzige Zugeständnisse fordern.

Diesmal soll das Europaparlament beteiligt werden - eine Chance

Und die Regierungen der reichen Länder werden erneut versuchen, wie einst in Griechenland und Portugal in Kolonialherrenmanier jede Hilfe aus dem neuen EU-Budget an marktradikale Reformauflagen nach ihrem Gusto zu koppeln. Dafür stehen die Reizworte „Resilienz, Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit“, mit denen Merkel die deutsch-französische Erklärung garnieren ließ.

Aber, und das ist die große Stärke des Plans, all das soll mit voller Beteiligung und Kontrolle des Europäischen Parlaments erfolgen. Das macht, anders als alle bisherigen Euro-Kuren, Korrekturen möglich. Insofern bietet er die vielleicht letzte Chance, der drohenden Spaltung der EU eine neue gemeinsame Stärke entgegenzusetzen. Das ist jede Anstrengung wert, und den Verfassungsrichtern sei Dank.

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