Aufgeblähter Bundestag: Karlsruhe lehnt Oppositions-Eilantrag gegen Wahlrechtsreform ab
FDP, Linke und Grüne halten das aktuelle Wahlgesetz für verfassungswidrig. Nun haben die Richter entschieden. Worum es geht - und wie es weitergeht.
Die Bundestagswahl am 26. September kann mit dem von Union und SPD neu beschlossenen Wahlrecht stattfinden. Das Bundesverfassungsgericht wies einen Eilantrag ab, mit dem die FDP-, Grünen- und Linke-Abgeordneten die Änderungen mit sofortiger Wirkung kippen wollten. Wie das Gericht in Karlsruhe am Freitag mitteilte, will es die Reform im Hauptverfahren noch genauer prüfen.
Für die Klägerinnen ist es ein Teilerfolg. Der Antrag der drei Oppositionsfraktionen sei weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, schreibt das Gericht. In der Folgenabwägung "überwiegen die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe jedoch nicht in ausreichendem Umfang, um den damit verbundenen Eingriff in die Zuständigkeit des Gesetzgebers zu rechtfertigen".
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FDP, Linke und Grüne halten das nun vorerst bestätigte Wahlgesetz für verfassungswidrig. Daher haben sie im Februar ihre Klageschrift in Karlsruhe eingereicht und gleichzeitig die Eilentscheidung verlangt. Seither hat sich der Zweite Senat Zeit gelassen. Seine Entscheidung, die am Freitag schriftlich begründet wurde, hat er ohne mündliche Verhandlung getroffen. In der Hauptsache wird das Verfahren wohl erst nach der Bundestagswahl beginnen.
Union und SPD hatten vor einem Jahr im Hauruckverfahren die Reform beschlossen, als sich abzeichnete, dass der kommende Bundestag wieder so groß oder noch größer werden könnte als der aktuelle. Die „Normalgröße“ – ohne Überhänge und Ausgleichssitze – liegt bei 598 Abgeordneten. Derzeit hat das Parlament 709 Mitglieder. Nach aktuellen Prognosen können es nach der Wahl mehr als 800 sein.
Schwarz-Rot beschloss eine zweistufige Reform. Zunächst soll bei der anstehenden Wahl über Eingriffe in das Mandatszuteilungsverfahren der Aufwuchs gedämpft werden, der durch Überhang- und Ausgleichsmandate entsteht. Erst zur nächsten Wahl soll dann eine Verringerung der Wahlkreiszahl einen zusätzlichen Effekt bringen. Denn weniger Wahlkreise bedeuten weniger Direktmandate und damit potenziell weniger Überhänge.
Normenklarheit und Wahlrechtsgleichheit
Nach der Klageschrift, die von der Düsseldorfer Rechtsprofessorin Sophie Schönberger verfasst wurde, widerspricht das Gesetz den Geboten der Normenklarheit, der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien. Unklar ist nach Ansicht der Oppositionsparteien, wie die Mandatszuteilung eigentlich genau funktionieren soll. Das Gesetz sei hier uneindeutig, die Entscheidung liege beim Bundeswahlleiter, nicht beim Bundestag. Unklar und verfassungswidrig ist nach Ansicht der Kläger auch die Regelung für die drei Überhänge, welche nach dem Gesetz nicht ausgeglichen werden müssen. Dieser Eingriff in die Verhältniswahl verzerrt zudem den Parteienproporz – im Extremfall könnte eine Mehrheit nur dadurch erreicht werden.
Das weisen die Richter nicht rundweg ab. Es scheine nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich bei der Auslegung des Gesetzes "Widersprüche ergeben, die eine zweifelsfreie Normauslegung im Ergebnis unmöglich machen", heißt es in der Mitteilung des Gerichts. Das gilt auch für die in der Klage angesprochenen Gebote der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit. Hier sieht das Gericht die Frage der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen berührt.
Mit Blick auf die Normenklarheit weisen die Richter darauf hin, dass schon das Verfahren er Mandatsverteilung im früheren Wahlgesetz "einen erheblichen Komplexitätsgrad" aufgewiesen habe. Im neuen Gesetz sei das noch gesteigert worden. Das Gericht gibt zu bedenken, dass der Gesetzgeber verpflichtet sein könnte, "ein Wahlverfahren zu schaffen, in dem die Wählerinnen und Wähler vor dem Wahlakt erkennen können, wie sich die eigene Stimme auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerberinnen und -bewerber auswirken kann". Die Bürger, so die kurze Zusammenfassung, müssten eine Norm auch nachvollziehen können.
Die Ablehnung des Antrags begründet der Zweite Senat damit, dass die Neuerungen im Wahlgesetz nur eine relativ geringe Zahl an Mandaten betreffen würden. Auch ist nach Ansicht des Gerichts die Zahl von drei ausgleichslosen Überhängen nicht groß genug, um dem Antrag auf einstweilige Anordnung stattzugeben. Das heißt, dass das Gericht im Ergebnis keinen großen Unterschied sieht, was die Größe des Bundestags betrifft. Die Dämpfungswirkung der schwarz-roten Reform ist eher gering - sie liegt bei einem oder zwei Dutzend Sitzen weniger als im früheren Recht.
Union hat sich gesperrt
Insbesondere die CDU/CSU-Fraktion hatte sich lange gegen eine gründliche Reform des Wahlrechts gesperrt, ihre später vorgelegten Vorschläge waren nicht mehrheitsfähig. Auf das Reformmodell von FDP, Linken und Grünen wollte sich die Koalition nicht einlassen, das der AfD hatte keine Chance, ein Kompromissvorschlag der Sozialdemokraten fiel ebenfalls durch.
Knackpunkt war das Kernproblem des deutschen Systems der mit einer Personalwahl verbundenen Verhältniswahl. Und das ist die Garantie des per Erststimme im Wahlkreis gewonnenen Direktmandats. Stellt eine Partei dadurch mehr Wahlkreissieger, als ihr nach den Zweitstimmen überhaupt an Sitzen im Parlament zustehen (also nach dem Parteienverhältnis), entstehen Überhangmandate - die dann durch Zusatzsitz für andere Parteien ausgeglichen werden.
Die Kernfrage lautet: Ist das System eine Verbindung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl mit Gleichgewichtung der beiden Komponenten, oder ist die Personalwahl in den Wahlkreisen nur ein zusätzliches, aber nachrangiges Element innerhalb einer Verhältniswahl? In der Union dominiert die die erste Auffassung, auch in der SPD hat sie Anhänger. FDP, Linke, Grüne und auch AfD vertreten die andere Linie. Genau darum wird es auch im Hauptverfahren gehen.
Überhänge ohne Ausgleich?
Nach Ansicht der Union, die diese Regelung ins Gesetz drückte, ist es verfassungskonform, drei Überhänge nicht auszugleichen. Karlsruhe habe in einer früheren Entscheidung angemerkt, im System der personalisierten Verhältniswahl seien bis zu 15 unausgeglichene Überhänge möglich. Schönberger hat dieser Auslegung widersprochen. Die frühere Entscheidung lässt sich auch so lesen, dass bis zu 15 unausgeglichene Überhänge als akzeptable Folge des damaligen Wahlrechts zulässig seien. Nicht aber, dass per Gesetz Überhänge ohne Ausgleich vorab zugelassen werden können. In seiner Entscheidung ließ das Gericht diese Frage nun offen.
Der zuständige Berichterstatter im Zweiten Senat ist Peter Müller, der frühere CDU-Politiker und Ministerpräsident des Saarlands - er hatte damit die Aufgabe, die Entscheidung vorzubereiten und eine Empfehlung zu geben. Wären die Richter zu dem Schluss gekommen, der Antrag auf einstweilige Anordnung sei berechtigt, dann hätte das geltende Wahlrecht am 26. September nicht angewendet werden können. Es wäre dann das frühere Gesetz wieder in Kraft getreten.