Ukraine-Krieg stellt Grundsatz infrage: Kann die Schweiz noch neutral bleiben?
Für die Schweiz ist Neutralität ein Grundwert – ändert sich das jetzt durch den Ukraine-Krieg?
Die Neutralität gehört seit Jahrhunderten zu den tragenden politischen Säulen der Schweiz. Sie gilt als Teil der helvetischen Identität und erlaubt es dem reichen Land, sich aus Konflikten herauszuhalten.
Besonders Politiker der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei verklären und überhöhen die Neutralität als noble Tugend, zu der im Prinzip nur die Eidgenossen fähig sind. „Die Welt braucht eine neutrale Schweiz“, schrieb der SVP-Publizist und Abgeordnete Roger Köppel vor kurzem als Gastautor für die Neue Zürcher Zeitung. „Neutralität erfordert Kraft und Festigkeit“, belehrte Köppel seine Leser.
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Doch angesichts des grausamen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, der Verbrechen und Massaker der Kremltruppen, wankt die Schweizer Neutralität. Ende Februar hatte der Bundesrat nach langem Hin und Her beschlossen, die Sanktionen der EU gegen Russland zu übernehmen.
In der Politik mehren sich nun die Forderungen, das Konzept der strikten Unparteilichkeit in Konflikten zu überdenken. Vor allem die Forderung des Parteichefs der „Mitte“, Gerhard Pfister, Munition aus Schweizer Produktion über Deutschland in die Ukraine zu liefern, facht die Debatte an.
Schweizer Regierung untersagt Munitionslieferung
Die Mitte ist Regierungspartei, die Anfang 2021 durch den Zusammenschluss der Christlichdemokratischen Volkspartei und den Bürgerlich-Demokratischen Partei entstand. Ihr gehört die Verteidigungsministerin Viola Amherd an.
Der Mitte-Präsident verlangt nun, die Schweiz müsse die Ukraine dabei unterstützen, sich zu verteidigen. Da die Schweizer Regierung die Lieferung der Munition untersage, sei sie verantwortlich für „unterlassene Hilfe“. Pfister erhält Rückendeckung aus der eigenen Mitte-Partei, der früheren Christlichdemokratischen Volkspartei, und von den Medien.
In den Zeitungen des Verbundes CH-Media heißt es über die Schweizer und ihre Neutralität: „Sie verleitet uns kollektiv dazu, den Lauf der Dinge vom warmen Stubensofa aus seltsam entrückt mitzuverfolgen.“ Die Eidgenossen trügen wenig dazu bei, Russlands Aggression zu stoppen.
Rüstungsfirmen produzieren fast alles
Besonders heuchlerisch sei die Absage an die Ukraine vor dem Hintergrund der Waffenlieferungen an die „Scheichs im Nahen Osten“. Tatsächlich lieferten Schweizer Rüstungsschmieden ihre Produkte auch an Saudi-Arabien, das im Jemen einen mörderischen Krieg führt.
Im Sortiment der Eidgenossen findet sich so gut wie alles, was die Ukraine in ihrem Kampf ums Überleben gebrauchen könnte: Panzer und gepanzerte Landfahrzeuge, Flugabwehrsysteme, bemannte und unbemannte Luftfahrzeuge und entsprechende Triebwerke, Bomben, Torpedos, Raketen, Flugkörper, militärische Explosiv-, Brenn- und Treibstoffe sowie Spezialinstrumente wie Entfernungsmesser, Nachtsichtgeräte oder Schutzausrüstung.
Waffen und Zubehör „Made in Switzerland“ gelten zwar als kostspielig. Andererseits zeichnen sie sich durch hohe Qualität und Zuverlässigkeit aus – immerhin erkämpfte sich das kleine Land 2020 den Rang 14 weltweit unter den Rüstungsexporteuren.
Deutsche Entscheidung setzt die Schweiz unter Druck
Auslöser der Schweizer Diskussion um Neutralität ist Deutschlands Entschluss, der Ukraine Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard zu liefern. Da die Bundesregierung die Ukrainer auch mit Munition versorgen will, gingen zwei deutsche Anfragen beim Schweizer Staatsekretariat für Wirtschat (Seco) ein. Es ging um die Weitergabe von Munition an die Ukraine, die Deutschland zuvor aus der Schweiz erhalten hatte.
„Eine Anfrage betrifft 35mm Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard. Die andere Anfrage war unspezifisch“, erklärt das Seco gegenüber dieser Zeitung. Beide Anfragen habe das Seco mit Verweis auf die Schweizer Neutralität und die „zwingenden Ablehnungskriterien der Schweizer Kriegsmaterialgesetzgebung“ abschlägig beantwortet.
Das Seco stellt klar: Das Empfängerland, in diesem Fall Deutschland, habe sich verpflichtet, das aus der Schweiz erhaltene Kriegsmaterial nicht ohne das vorherige Einverständnis der Eidgenossen weiterzugeben. Mit anderen Worten: Bern verfügt ein Veto.
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Die Episode illustriere, wie schwer es der Schweiz falle, angesichts der russischen Aggression eine klare Position einzunehmen, schrieb die Neue Zürcher Zeitung. „Auch hierzulande wird die deutsche Zurückhaltung bei den Waffenexporten gerne kritisiert. Gleichzeitig aber will man mit Verweis auf die eigene Neutralität überhaupt kein Kriegsmaterial ausführen“, hieß es weiter.
Als rechtliche Grundlage seines Neins nennt Bern das Haager Übereinkommen vom 18. Oktober 1907, dessen Vertragsstaat die Schweiz ist. Es betrifft die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte wie der Schweiz im Falle eines Landkrieges.
Einseitige Lieferungen sind nicht gestattet
Danach muss ein neutraler Staat eine Gleichbehandlung der Kriegführenden beim Rüstungsexport sicherstellen. Demnach dürfe die Eidgenossenschaft nicht einseitig die Lieferung von Munition oder anderem Kriegsgerät an die Ukraine ermöglichen. Tatsächlich hat die Schweiz nach Regierungs-Auskunft seit Jahren keine Waffenexporte in die Ukraine oder Russland bewilligt.
Das gültige Haager Gebot führte der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis schon im März ins Feld. Bei einem Cassis-Besuch in Warschau hatte Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von der Schweiz Waffen verlang, die Warschau in die Ukraine leiten wollte.
Cassis lehnte höflich ab: „Neutralität heißt aber, dass wir keine Waffen liefern können.“ Letztlich könnte der Bundesrat jedoch mit Hilfe eines „notrechtlichen Eingriffs“ das Veto aufheben – wenn er wollte.
Jan Dirk Herbermann
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