Die große Machtfrage: Kann die CDU ohne Merkel noch gewinnen?
Angela Merkel gelang es, die CDU für neue Wählerschichten zu öffnen. Keiner ihrer möglichen Nachfolger ähnelt ihrem Profil - sie sind allesamt konservativer.
Im Herbst 2021 wird ein neuer Bundestag gewählt. Spätestens, denn dann endet die laufende Legislaturperiode. Vielleicht aber auch früher. Zum Beispiel, wenn die Koalition platzt und es zu vorzeitigen Neuwahlen kommt. Wie und wann auch immer, eines steht fest: Angela Merkel tritt nicht mehr an. Die Deutschen werden also in jedem Fall entweder eine neue Kanzlerin oder einen neuen Kanzler bekommen.
Die Frage „Was kommt nach Merkel?“ richtet sich auch an die Sozialdemokraten, die im Verschleißen von Kanzlerkandidaten die größten Erfahrungen haben – und erstmals an die Grünen, die nach heutigen Prognosen durchaus stärkste Partei eines Regierungsbündnisses werden könnten. Spannender ist aber der Blick in die Zukunft bei Christdemokraten und Christsozialen: Ihre Chancen, die Merkelnachfolge im Kanzleramt zu bestimmen, sind wahlarithmetisch am größten.
Wer kommt nach Merkel, ist die große Machtfrage der CDU/CSU. Sie beschäftigt die Partei zu Recht mit zunehmender Unruhe. Dabei geht es nicht nur um Personen, sondern auch um Positionen. Merkel hinterlasse in der Union ein strategisches Vakuum, sagt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen, mit der das ZDF und der Tagesspiegel beim Politbarometer kooperieren.
Unter der Vorsitzenden und Kanzlerin Merkel habe man genau gewusst, wo die Union steht, erklärt Jung. Wie bitte? Stimmt das? Gilt Merkel nicht als die größte politische Zauderin im Kanzleramt seit Kurt Georg Kiesinger? Sie, die angeblich so gerne von hinten führt, also den Wind die Richtung bestimmen lässt? Nicht so Wahlforscher Jung. Es sei nicht wahr, dass die Union unter Merkel keine Position bezogen habe, ganz im Gegenteil.
Und tatsächlich: Die meisten aus der Gruppe der christdemokratischen Macht- und Bedenkenträger haben sich ja gerade über Merkels klare Positionen aufgeregt, und nicht über ihre Wankelmütigkeit. Wehrpflicht, Atomausstieg, Flüchtlingsfrage – das sind nur drei Beispiele für grundsätzliche Richtungsänderungen, bei denen die Kanzlerin und Parteivorsitzende die Mitglieder von CDU und CSU vor vollendete Tatsachen gestellt habe.
Im Übrigen zeigt die lange erfolgreiche Merkelsche Methode der „asymmetrischen Mobilisierung“, wie geschickt die Kanzlerin der SPD deren wahlkampftaugliche Themen einfach durch Adaption weggenommen habe, und dadurch den politischen Gegner im Wahlkampf ins Leere laufen ließ.
Die Forschungsgruppe Wahlen führt Merkels über die Parteigrenzen hinweg lange unbestrittene Autorität auf eine Mischung aus hoher Sachkompetenz und präsidialer Wirkung zurück. Gibt es im Kreise der Christdemokraten, die sich für eine Nachfolge berufen fühlen, jemand, dem beide Eigenschaften zuzutrauen oder gar schon zuzuschreiben sind?
Vier Kandidaten können sich Chancen auf die Merkel-Nachfolge ausrechnen
Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz, Armin Laschet, Markus Söder – das ist das Quartett derer, die sich beim heutigen Diskussionsstand Chancen auf eine Nachfolge ausrechnen könnten. Für den Wahlforscher und Demoskopen gibt es da so wenig ein klares Bild wie für den politischen Journalisten. Das politische Profil von Annegret Kramp-Karrenbauer ist statisch-konservativ, bewahrend, aber dennoch diffus. Das von Friedrich Merz hingegen ist sehr klar als neoliberal und gemäßigt konservativ zu beschreiben. Armin Laschet wäre mit seinen NRW-Erfahrungen Öffnungen zu den Grünen genauso wie zu den Liberalen zuzutrauen.
Das Bild von Markus Söder blieb in der Ära Horst Seehofer eher rüpelhaft, wobei der Ältere an den Verzeichnungen und Schmutzeleien gehörigen Anteil hatte. Heute drängt der bayerische Ministerpräsident seine CSU, getrieben von den Erfolgen der Grünen, auf einen so beschleunigten Reformkurs, dass den eigenen Leuten manchmal schwindelig wird und sie zu mosern beginnen. Sachkompetenz mag man, im jeweiligen Arbeitsrahmen, keinem absprechen. Präsidiale Ausstrahlung hingegen schon. Aber auch der jungen Angela Merkel fehlte als CDU-Generalsekretärin, Umweltministerin und frühe Kanzlerin der Jahre nach 2005 noch jede präsidiale Wirkung. Manchem, wie Emmanuel Macron, scheint sie in die Wiege gelegt zu sein, andere müssen sie sich erarbeiten.
Dass man auch ohne diese Aura des Über-den- Parteien-Schwebens erfolgreicher Bundeskanzler sein kann, hat Gerhard Schröder bewiesen. Willy Brandt schwebte, aber seine eigene Partei gestand ihm das Präsidiale eigentlich erst zum Ende seines Lebens zu. Helmut Schmidt erwuchs der Respekt der Nation mehr und mehr zum Ende seines langen Erdenweges. Helmut Kohl fühlte sich dem Präsidenten Richard von Weizsäcker haushoch überlegen, ohne es zu sein. Die Kanzler Konrad Adenauer und Kurt Georg Kiesinger lebten und wirkten in einer Zeit vor der Globalisierung und Multiplizierung der Medien, sie taugen als Maßstab nicht.
Wichtiger als die Wirkung ist das Wirken selbst. Welcher Kanzlerkandidat der Union wäre in der Lage, das Wählerpotential voll zu erschließen – wie es Merkel über fast ein Jahrzehnt sehr gut gelang? Die scheidende Kanzlerin ist bei den Konservativen der eigenen Partei geradezu verhasst, weil sie der Partei ihr Profil genommen habe. Tatsächlich jedoch öffnete sie, folgt man der Analyse der Forschungsgruppe Wahlen, das Potential der Wähler in der Mitte der Gesellschaft weit besser als es jeder der potentiellen Nachfolger könnte.
Wahlforscher Jung erinnert in einem Aufsatz für den wissenschaftlichen Springerverlag (Modernisierung und asymmetrische Demobilisierung, Zur Strategie der Union seit 2005) daran, dass das klassische, bürgerlich-konservative Wählerpotential der Union, eher älter ist.
Was Merkel macht, kann noch so schlecht sein, auch offensichtlich und quantitativ fassbar - Merkel schafft es immer, positiv dazustehen. DAS ist ihr eigentliches Talent.
schreibt NutzerIn Paul_Kalbautzke
Alleine als Folge der normalen demografischen Entwicklung sterben der CDU/CSU in jeder Legislaturperiode etwa eine Million Wähler weg. Die Union habe also, so Matthias Jung, eigentlich keine andere Überlebensstrategie gehabt als sich in der Mitte der Gesellschaft zu bewegen. Sobald sie diese Mitte verlässt – was ja Kandidaten wie Friedrich Merz riskieren – verlieren sie nicht nur Wählerprozente, sondern auch die Koalitionsfähigkeit, die nur einer Volkspartei der Mitte eigen ist. Wird die Union konservativer, oder neoliberaler in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, ist sie unattraktiver für eine größere Zahl von Wählern. Und sie verliert die Bündnisfähigkeit sowohl zur SPD als auch zu den Grünen hin.
Wie gefährlich die Tendenz Richtung Neoliberalismus sein kann, hat sich nach der Analyse der Forschungsgruppe Wahlen am Ergebnis der Bundestagswahl 2005 gezeigt. Da hatte im Wahlkampf noch der Leipziger CDU-Parteitag des Jahres 2003 nachgewirkt, bei dem Angela Merkel voll auf diese politische Richtung gesetzt hatte.
Unter Merkel hat die CDU auch ihre historisch miserabelsten Ergebnisse eingefahren. Sie hat Deutschland und die EU durch ihre Politik gespalten und als Folge davon den Aufstieg der AfD begünstigt.
schreibt NutzerIn w.heubach
Dass die CDU, obwohl sie vier Monate vor der Wahl im Politbarometer noch bei fast 50 Prozent Stimmanteil lag, am Wahlabend nur einen knappen Ein-Prozent-Vorsprung vor der SPD hatte, hing, so heißt es in dem zitierten Aufsatz wörtlich „am selbstverliebten Dauerauftritt des designierten (CDU)-Finanzministers Professor Paul Kirchhof“. Gegen den nutzten „Schröder und die SPD … sehr gezielt diffuse Ängste im Hinblick auf Kürzungen im Sozialbereich, eine stärkere Belastung wirtschaftlich nicht so gut gestellter Bürger und eine primäre Ausrichtung des Arbeitslebens an den Erfordernissen der Globalisierung“.
Die CSU ist dem Sozialen enger verbunden
Diese Analyse der Situation vor fast anderthalb Jahrzehnten klingt heute brandaktuell. Welche Themen in einem Wahlkampf jetzt eine Rolle spielen könnten, darüber mag Matthias Jung nicht spekulieren. Das hänge vom Wahltermin ab, und von den Umständen eines möglichen Scheiterns der großen Koalition. Ganz sicher aber werde das Thema „Gemeinwohlorientierung“ bedeutendes Gewicht haben. Die Politik müsse die soziale Marktwirtschaft wieder auf die Füße stellen, den Menschen das bedrückende Gefühl nehmen, dass nur die Topleistungsträger im Zentrum der Aufmerksamkeit stünden. Die Gesellschaft als Ganzes müsse wieder ein Gefühl der Gemeinsamkeit entwickeln.
Daraus resultiert fast zwangsläufig, dass die Politik den Bürgerinnen und Bürgern die Sorge nehmen muss, sie könnten von heute auf morgen, durch Globalisierung und technische Umwälzungen, über Nacht die Existenzbasis verlieren. Gelinge das nicht – und das gilt für jeden Kanzlerkandidaten der Union – gehe nicht nur die Wahl verloren, sondern vielleicht auch der Zusammenhalt der Gesellschaft.
Wo die CDU hier im Laufe der vergangenen Jahre den Kontakt zu einer wichtigen Wählerklientel missachtet hat, macht die Forschungsgruppe Wahlen am Niedergang der Sozialausschüsse der CDU fest. Die Zeiten, in denen ein Norbert Blüm und ein Hans Katzer den Sozialflügel der CDU verkörperten, liegt eine Generation zurück. Heute ist da Fehlanzeige. Die CSU sei da, der Name wirkt bis heute als Programm, dem Sozialen enger verbunden, es gehöre zum Wesenskern der bayerischen Schwesterpartei.
Im Rück- und Ausblick auf die Ära Merkel und das, was nach ihr kommen könnte, zieht Matthias Jung dieses Resumee:
„Aufgrund der Veränderungen im Parteiensystem, die eine dauerhafte Polarisierung mindestens zur AfD, aber auch – trotz der gemeinsamen Regierungskoalition – zur SPD erwarten lassen, scheinen die Tage einer Strategie der asymmetrischen Demobilisierung gezählt zu sein. Unabhängig davon wird aber der gesellschaftliche Modernisierungsprozess der breiten Mitte weitergehen und die Probleme der Union aufgrund der hohen Mortalität ihrer Wählerschaft werden auf der Tagesordnung bleiben. Insofern wird es für die Zukunft der Union entscheidend sein, ob der Modernisierungskurs auch eine Fortsetzung in der Nach-Merkel-Ära finden wird.
Setzt hier ein ,roll back’ ein, droht der CDU ein ähnliches Fiasko wie der SPD, die den – bei den Wählern erfolgreichen – Modernisierungskurs von Gerhard Schröder aufgrund der fundamentalistischen Tendenzen innerhalb der Partei wieder rückgängig gemacht und sich damit immer mehr ins Abseits manövriert hat. Strukturelle Mehrheitsfähigkeit und damit politische Gestaltungsmöglichkeiten kann nur erlangen, wer in der politischen Mitte erfolgreich ist, dort, wo sich die Masse der Wähler befindet.“
75 Prozent der Wählerinnen und Wähler fänden es laut Politbarometer gut, wenn die Bundeskanzlerin bis zum Schluss der Legislaturperiode durchhält und die große Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibt. Nach dem aktuellen Politbarometer vom Freitag hätte die Union nach Einschätzung von 35 Prozent der eigenen Anhänger die besten Chancen mit Friedrich Merz als Spitzenkandidat. 15 Prozent der CDU/CSU-Anhänger sehen in Armin Laschet den erfolgversprechendsten Bewerber, 14 Prozent nennen Markus Söder, zwölf Prozent Jens Spahn, acht Prozent Annegret Kramp-Karrenbauer, neun Prozent „jemand anderen“. Unter allen Wahlberechtigten ergibt sich ein tendenziell ähnliches Bild: In der Frage nach dem/r erfolgversprechendsten Unions-Kandidat/in für die Bundestagswahl liegt Merz unter allen Befragten mit 28 Prozent klar vor Laschet (13 Prozent), Söder (11 Prozent), Spahn (9 Prozent) und Kramp-Karrenbauer (8 Prozent).