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Kommunale Aufgaben für Arbeitslose.
© Maurizio Gambarini dpa

Alternative zu Hartz IV: Kann das solidarische Grundeinkommen funktionieren?

Statt Hartz IV schlägt Michael Müller ein „Recht auf Arbeit“ vor. Worum es genau geht – und was Vor- und Nachteile sind. Fragen und Antworten.

Schluss mit Hartz IV, fordert Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. Für seinen Vorschlag eines solidarischen Grundeinkommens erhält der SPD-Politiker viel Unterstützung, es gibt aber auch deutliche Kritik an dem Modell.

Was ist ein solidarisches Grundeinkommen?

Der Begriff lädt zu Missverständnissen ein. Denn mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, das allen Bürgern zusteht, auch wenn sie keiner Arbeit nachgehen, hat der Vorschlag nichts zu tun. Müller geht es darum, Hartz IV zunächst um einen gemeinnützigen Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose zu ergänzen. Wobei der SPD-Politiker keinen Hehl daraus macht, dass er die in Teilen der Bevölkerung verhasste Sozialreform auch gerne komplett abschaffen würde. „Wir brauchen ein neues Recht auf Arbeit“, sagt er.

Konkret schlägt Müller vor, dass der Staat auf kommunaler Ebene Arbeitsplätze schaffen soll – und zwar in Vollzeit, unbefristet und auf freiwilliger Basis. Für ihre Tätigkeit sollen die Teilnehmer mindestens mit dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden. Erstmals brachte Müller den Begriff des solidarischen Grundeinkommens im Herbst 2017 im Tagesspiegel in die Diskussion – wohl auch als Versuch, als neuer Bundesrats-Präsident einen bundespolitischen Akzent zu setzen. Bisher hat er seine Idee allerdings nur in Grundzügen skizziert, ein fertiges Konzept liegt nicht vor.

Welche Jobs sollen angeboten werden?

Müller selbst spricht von Tätigkeiten, die wegen klammer staatlicher Kassen heute nicht möglich seien: Sperrmüllbeseitigung, Säubern von Parks, Bepflanzung von Grünstreifen, Begleit- und Einkaufsdienste für Menschen mit Behinderung, Babysitting für Alleinerziehende, Schulsekretariat sowie ehrenamtliche Tätigkeiten, etwa in der Flüchtlingshilfe, als Lesepate oder Übungsleiter im Sportverein. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) nennt in einer Kurzanalyse weitere Beispiele: Hausmeisterdienste, Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe, sowie Ernährungsberatung.

DIW-Forscher Bach sagt, es solle keine reguläre Arbeit verdrängt werden. „Es geht um Tätigkeiten, die gesellschaftlich sinnvoll wären, bisher aber nicht oder nur unzureichend finanziert werden.“ Dann dürfte auch die Akzeptanz in der Bevölkerung hoch sein, erwartet Bach: „Denn die Gesellschaft bekommt ja etwas zurück in Form der Arbeitsleistung.“ Der Arbeitsmarktexperte Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), meldet jedoch Zweifel an. Wenn es sich um „zusätzliche Tätigkeiten“ handele, sei das in Ordnung. Er finde es aber problematisch, wenn der Staat seine Pflichtaufgaben nicht mit regulären Stellen erfülle, sagt er mit Verweis etwa auf die Schulsekretärin.

Um welche Personengruppe geht es?

Nur um einen Teil der Hartz-IV-Empfänger. Im Jahr 2017 gab es bundesweit rund 1,7 Millionen Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen und gleichzeitig arbeitslos waren. Unter ihnen waren rund 800.000 Langzeitarbeitslose, die seit mehr als einem Jahr vergeblich auf Jobsuche sind. Das DIW hält anfangs eine Größenordnung von 100.000 bis 150.000 kommunaler Jobs für realistisch. Von einer Abschaffung von Hartz IV kann man also damit noch nicht sprechen: Denn wer die Arbeit nicht annehmen möchte, bleibt im System der Grundsicherung.

Die Tatsache, dass die Teilnahme allen Arbeitslosen offen stehen und nicht auf besonders arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose beschränkt werden soll, könnte nach Ansicht von IAB-Forscher Walwei einen Nebeneffekt haben: „Natürlich ist Wahlfreiheit schön“, sagt er. „Aber dann landen vermutlich nicht diejenigen in der geförderten Beschäftigung, die ansonsten keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.“ Schätzungen zufolge gelten bis zu 200.000 der rund 800.000 Langzeitarbeitslosen als nicht vermittelbar.

Fraglich ist, ob die angedachten Stellen zu der betroffenen Personengruppe passen. Ein Teil der Hartz-IV-Empfänger hat es auch deswegen so schwer auf dem Arbeitsmarkt, weil bei ihnen zusätzlich zur langen Arbeitslosigkeit andere Schwierigkeiten hinzu kommen: Suchtprobleme, Überschuldung, psychische Erkrankungen. Wer Flüchtlingen bei der Integration helfen, auf kleine Kinder aufpassen oder behinderte Menschen begleiten soll, muss aber belastbar sein und eine hohe soziale Kompetenz mitbringen – also die Eigenschaften, die üblicherweise mit Hilfe eines sozialen Arbeitsmarkts erst wieder aufgebaut werden sollen.

Was wäre der Vorteil für die Teilnehmer?

Identität und soziale Stellung werden in unserer Gesellschaft durch Arbeit bestimmt. Von einem solidarischen Grundeinkommen verspricht Müller sich deshalb mehr soziale Teilhabe. Statt Sozialleistungen zu zahlen und Arbeitslosigkeit zu verwalten, sollten lieber „fair bezahlte“ Jobs geschaffen werden. Wer auf freiwilliger Basis einen solchen kommunalen Job annehmen würde, müsste keine Transferleistungen mehr beantragen, sondern erhielte ein sozialversicherungspflichtiges Gehalt in Höhe des Mindestlohns.

Nach Berechnungen des DIW käme ein Alleinstehender bei einem Stundenlohn von neun Euro und einer 39-Stunden-Woche auf ein Nettoeinkommen von 1154 Euro – knapp 200 Euro mehr als mit Hartz IV. Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern (14 und 17 Jahre) hätte laut den Modellrechnungen ein verfügbares Einkommen von 2230 Euro im Monat und damit ein Plus von 400 Euro. Allerdings wären wohl nicht alle Teilnehmer in der Lage, 39 Stunden zu arbeiten. „Unter den Langzeitarbeitslosen sind viele mit gesundheitlichen Einschränkungen“, sagt Arbeitsmarktforscher Walwei. „Bei etlichen von ihnen ist es unrealistisch, dass sie eine Vollzeitstelle annehmen.“

Und was wären die Nachteile?

Dass gerade jetzt über das solidarische Grundeinkommen geredet wird, findet Arbeitsmarktexperte Walwei „etwas eigenartig“. Der Arbeitsmarkt sei derzeit „sehr aufnahmefähig“, sagt der IAB-Forscher. „Da sollte die Priorität darauf liegen, möglichst viele Menschen in reguläre Arbeit zu bringen.“ Im schlimmsten Fall würden Menschen, die auch Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten, in dieser Art von Beschäftigung eingesperrt. Schließlich sollen die kommunalen Stellen dauerhaft eingerichtet werden. Walwei sieht bei Müllers Vorschlag „keinen großen Unterschied“ zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ABM, die vor allem in den 90er Jahren intensiv genutzt wurden. „Aus der Evaluation dieses Instrumentes wissen wir, dass es viele Teilnehmer auf Dauer vom ersten Arbeitsmarkt ferngehalten hat“, sagt Walwei.

Sein DIW-Kollege Bach hingegen ist überzeugt, dass das solidarische Grundeinkommen auch „Brücke in den ersten Arbeitsmarkt“ sein könne – wenn Arbeitslose im Erwerbsleben gehalten werden und sich auch weiterbilden. Durch den Wandel in der Arbeitswelt sieht er in Zukunft sogar einen steigenden Bedarf an solchen Ideen. „Durch Digitalisierung und technologische Veränderungen können künftig viele Jobs für gering Qualifizierte wegfallen. Wenn dadurch die Langzeitarbeitslosigkeit wieder steigt, kann das solidarische Grundeinkommen Betroffenen eine Perspektive bieten.“

Was kostet Müllers Modell?

Das DIW hat die Kosten für den Staat überschlagen und kommt auf eine Summe von 500 Millionen Euro bei 100.000 Geförderten. Das Vorhaben sei also „finanzierbar“, urteilte Berlins Regierender Bürgermeister Müller. Schließlich sei auch im Koalitionsvertrag von SPD und Union ein Förderprogramm für Langzeitarbeitslose vorgesehen, für das in der Legislaturperiode vier Milliarden Euro zur Verfügung stünden. In den DIW-Berechnungen ist allerdings nicht enthalten, dass es für den Staat auf Dauer deutlich günstiger wäre, Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.

Wer gehört zu den Unterstützern und wer zu den Kritikern?

Mit der Grundsatzkritik an Hartz IV und seinem Modell des solidarischen Grundeinkommens hat Müller offenbar einen Nerv in der SPD getroffen. Das liegt auch daran, dass die Partei nach der Einführung der Arbeitsmarktreform am stärksten unter Druck geriet. Aus Teilen der SPD erhält Müller vielleicht auch deswegen Zustimmung, weil sich so vieles in den wohlklingenden Begriff projizieren lässt. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund signalisiert Zustimmung, während die Arbeitgeber vor dem Aufbau „künstlicher Beschäftigung“ warnen.

Was wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Die Idee gibt es schon lange, in diesen Tagen erlebt sie ein Revival: Angesichts der Umbrüche in der Arbeitswelt wird auch in Deutschland wieder stärker über das bedingungslose Grundeinkommen debattiert. Das Modell sieht vor, dass jeder Bürger eines Landes vom Staat ein Grundeinkommen erhält – unabhängig davon, ob er einer Arbeit nachgeht oder über eigenes Vermögen verfügt. Der Betrag soll so bemessen sein, dass er die Existenz sichert. Befürworter dieses Modells versprechen sich davon, dass mehr Zeit für Ehrenamt, Engagement oder die Familie bleibt, aber auch für Bildung.

Bei der konkreten Ausgestaltung gehen die Meinungen weit auseinander – vor allem, was die Höhe der monatlichen Zahlung und die Finanzierung angeht. Konkrete Erfahrungen gibt es bisher nur wenige. Die Schweizer entschieden sich im vergangenen Jahr in einer Volksabstimmung gegen die Einführung eines Grundeinkommens. Finnland testet seit gut einem Jahr in einem Modellversuch, wie es funktioniert. Dort erhalten 2.000 Arbeitslose monatlich 560 Euro, ohne dass jemand überprüft, was sie mit dem Geld machen. Die mit dem Pilotprojekt verbundene Hoffnung ist, dass es diesen Menschen einfacher gelingt, wieder einen Job zu finden.

Schaut man sich die Parteien in Deutschland an, sind die meisten Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Linkspartei und bei den Grünen zu finden. Aber auch Unternehmer wie dm-Gründer Götz Werner werben seit Längerem dafür.

Welche Alternativen zu Hartz IV werden noch diskutiert?

In der Arbeiterpartei SPD ist die Skepsis gegenüber einem bedingungslosen Grundeinkommen groß. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller lehnt es ebenso ab wie der neue Arbeitsminister Hubertus Heil.

Heil will stattdessen einen sozialen Arbeitsmarkt schaffen für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen, bei denen die Chancen besonders schlecht stehen, dass sie jemals einen regulären Job auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Als besonders schwer vermittelbar gelten Menschen, die lange arbeitslos sind und bei denen mehrere Probleme zusammenkommen: etwa ein fehlender Schulabschluss oder eine nicht abgeschlossene Berufsausbildung, Alkohol- oder Drogenprobleme, gesundheitliche Einschränkungen oder psychische Probleme. Schätzungen zufolge sind das bis zu 200.000 Personen. Details des Konzepts liegen noch nicht vor.

Der Arbeitsmarktforscher Ulrich Walwei rät, die Zielgruppe eng zu umgrenzen und die Stellen zeitlich zu befristen. „Der soziale Arbeitsmarkt sollte nur letztes Mittel sein. Man sollte immer wieder versuchen, die Arbeitslosen durch Praktika und soziale Begleitung fit für den ersten Arbeitsmarkt zu machen“, sagt der Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Walwei empfiehlt, Familien mit Kindern in den Fokus zu nehmen. „Der soziale Arbeitsmarkt kann präventiv wirken. Wenn Kinder zu Hause erleben, dass beide Elternteile dauerhaft arbeitslos sind, besteht die Gefahr, dass sich das vererbt.“

Cordula Eubel

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