„Le Pen verhindern, Macron bekämpfen“: Junge Franzosen tragen ihre Enttäuschung über den ersten Wahlgang auf die Straße
Die Jugend in Frankreich hat mehrheitlich links gewählt. Der Unmut ist groß: Zeitweise waren Unis besetzt, für Samstag sind Proteste angekündigt.
Vorn Absperrgitter, dahinter Mülltonnen, Elektrofahrräder und oben drauf ein rotes Sofa: Knapp 70 Studierende blockieren am Donnerstag bei strahlendem Sonnenschein die Eingänge der Pariser Universität Sciences Po. Es ist Tag vier nach dem ersten Wahlgang. Der 22-jährige Max M., pinker Schal, pinker Nagellack, sitzt auf dem roten Sofa auf der Blockade und sagt: „Die Enttäuschung ist enorm.“ Über ihm hängt die Flagge der antifaschistischen Bewegung.
Max hat, wie über 30 Prozent der unter 35-Jährigen, im ersten Wahlgang den linken Jean-Luc Mélenchon gewählt. 1,2 Prozentpunkte nur trennen Mélenchon von der rechtsextremen Marine Le Pen, die jetzt gegen Präsident Emmanuel Macron in der Stichwahl antritt. Die linke Jugend hatte gehofft, die rechtsextreme Kandidatin zu verhindern.
Vor dem Wahlsonntag wurden Slogans in sozialen Netzwerken geteilt wie: „Der beste Weg, sich gegen die Rechtsextreme zu stellen, ist, sie erst gar nicht in die Stichwahl kommen zu lassen.“ Es hat nicht gereicht. Viele der jungen Linken und Linksextremen sehen sich nun vor eine Wahl gestellt, die ihnen bitter erscheint.
Denn ihre Sorge vor Le Pen ist groß, die Wut auf Macron allerdings auch. Linke Studierendenorganisationen haben deshalb zu Protesten aufgerufen, um ihrem Unmut und ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Erst Versammlung, dann Besetzung
Nicht nur vor der Sciences Po: Von Mittwochmittag bis Donnerstagabend hatten Studierende die Sorbonne besetzt, nachdem sich dort mehrere Hundert zu einer „Generalversammlung“ getroffen hatten. Zuvor hatten Studierende in einer Mitteilung geschrieben, dass sie sich weigerten „zwischen Macron und Le Pen“ zu wählen. Sie kritisierten die „systematische Zerschlagung der Jugend“, die Macron betrieben habe, und das „rassistische, fremdenfeindliche und antisoziale Projekt“ von Marine Le Pen.
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Die Studierenden vor der Science Po rufen laut: „Le Pen verhindern, Macron bekämpfen.“ Sie seien hier, um für eine soziale, ökologische und anti-rassistische Politik zu kämpfen, sagt Max, der Politikwissenschaften studiert und der Gewerkschaft „Solidaire étudiant-e-s“ angehört. In dieser Hinsicht seien die vergangenen fünf Jahre mit Macron „ziemlich katastrophal“ gewesen.
Er nennt als Beispiele eine restriktive Asylpolitik und das sogenannte „Gesetz Separatismus“. Es wurde im Sommer 2021 verabschiedet und soll unter anderem das Vorgehen gegen den radikalen Islamismus vereinfachen. Die Opposition hatte es scharf kritisiert, weil es ihrer Ansicht nach antimuslimische Ressentiments schüre.
Nur einen Kilometer von der Sciences Po entfernt bewachen zahlreiche Polizisten ein großes Gebäude, als sei es ein Hochsicherheitstrakt: Die Sorbonne ist komplett abgesperrt. Auch die Straßen, die zum Gebäude hinführen, werden bewacht, keiner darf durch. „Die Studenten – ein sensibles Thema, leider“, sagt einer der Polizisten.
In der Universität selbst harren zu diesem Zeitpunkt nach Angaben in sozialen Medien noch rund hundert Studierende aus – dort, wo im Mai 1968 die Studentenrevolte in Frankreich begann. Gegen Mittag, das zeigen Videoaufnahmen, ist die Lage angespannt: Die Polizei setzt Pfefferspray ein, um Demonstrierende vom Gebäude fern zu halten. Aus dem Gebäude werden Gegenstände auf die Einsatzkräfte geworfen.
Vor der Sorbonne sind am Nachmittag noch rund 300 Menschen versammelt, um sich mit den Besetzern solidarisch zu zeigen. Als zwei Vermummte auf dem Dach der Sorbonne auftauchen und ein weißes Laken mit dem Schriftzug „wütende Jugend“ befestigen, brandet Jubel auf.
Für Macron stimmen, gegen die eigene Überzeugung?
Auf dem Platz vor dem Gebäude sitzen Ylla S. und Marion P., 21 und 23 Jahre alt. Marion hat sich entschieden: Sie wird im zweiten Wahlgang für Macron stimmen, auch wenn sie damit „gegen ihre Überzeugungen“ handelt. Ylla überlegt, sich zu enthalten.
Schon im ersten Wahlgang haben über 40 Prozent der unter 35-Jährigen keinen Gebrauch von ihrem Stimmrecht gemacht. Experten befürchten, dass der Anteil in der zweiten Abstimmung noch wachsen wird. Das könnte vor allem Le Pen zugute kommen: Es wird erwartet, dass ihre Wählerschaft sowie die des rechtsextremen Éric Zemmours, der sich für sie ausgesprochen hat, ziemlich sicher zur Wahl gehen.
Enthalten sich viele der Linken, so die Annahme, könnte das vor allem Macron schaden, der auf weitere Stimmen angewiesen ist. Der Philosoph Marc Crépon, der an der École Normale Supérieure lehrt, hatte am Montag einen „offenen Brief an die Jugend“ in der Zeitung „Libération“ veröffentlicht. Darin schrieb er, er könne ihren Groll verstehen.
Doch er fordere die Jugend auf, Macron zu wählen. Die Demokratie bestehe nicht immer daraus, das Beste zu wählen, „sondern das Schlimmste zu verhindern“. Unter Jungwählern sind die Meinungen gespalten.
Marion und Ylla etwa erwarten, dass Macron flächendeckend Studiengebühren einführt. Zwar hat der Präsident das immer verneint. Im Januar hatte er aber gesagt: „Wir können nicht dauerhaft in einem System bleiben, in dem Hochschulbildung für fast alle Studierenden keinen Preis hat.“ Das Misstrauen ist hoch.
Marion und Ylla haben Mélenchon gewählt, vor allem für sein sozialpolitisches Programm. „Mit seinen außenpolitischen Plänen und der Forderung nach einem Nato-Austritt stimme ich nicht überein“, sagt Marion.
Aber sie wäre lieber gegen Mélenchon als gegen Macron auf die Straße gezogen – „nach dem Motto habe ich gewählt“. Die Europapolitik der Präsidenten spielt für sie eine untergeordnete Rolle. Macron setze sich „für sein ganz eigenes Europa“ ein, sagt Marion. Aus ihrer Sicht ein Europa der privatwirtschaftlichen und neoliberalen Interessen.
Die letzten Besetzer verlassen schließlich Donnerstagabend die Sorbonne – nach Angaben der Zeitung „Le Parisien“, weil sie eine Räumung der Polizei befürchteten. Auch die Blockade am Eingang vor der Science Po wird aufgehoben, allerdings nicht freiwillig: Ein rechtsextremes Studentenkollektiv hat die Blockade mit Gewalt aufgelöst.
Mehrere Universitäten haben angekündigt, bis auf weiteres auf Onlineveranstaltungen zu setzen, manche Gebäude sollen bis zum Wahlsonntag geschlossen bleiben. Das Semester endet mit Ablauf der kommenden Woche. Die Proteste dürften damit nicht am Ende sein: Für Samstag hat ein breites Bündnis zu Demonstrationen „gegen die extreme Rechte, für Gerechtigkeit und Gleichheit“ in 24 Städten aufgerufen.