EU-Flüchtlingspolitik: Juncker redet Osteuropäern ins Gewissen
Bei seiner Rede in Straßburg appelliert EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker an die EU-Staaten, sich am kommenden Montag auf die Verteilung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen zu einigen.
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat die Umverteilung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen aus Italien, Griechenland und Ungarn auf andere EU-Staaten gefordert. Bei seiner Rede zur Lage der Europäischen Union sprach sich Juncker dabei am Mittwoch für einen festen Verteilungssschlüssel aus. Das neue System müsse „verpflichtend“ sein, forderte der ehemalige luxemburgische Premierminister im Europaparlament in Straßburg. Juncker appellierte an die EU-Mitglieder, die Vorschläge der Kommission für die Notfall-Umverteilung der insgesamt 160.000 Flüchtlinge bei der Sondersitzung der EU-Innenminister am kommenden Montag anzunehmen.
Bei seiner Rede setzte sich der 60-Jährige sehr grundsätzlich mit dem Bild auseinander, das die EU in den vergangenen Tagen und Wochen bei der Aufnahme der Flüchtlinge abgab. Er wolle in einem Europa leben, das von Hilfsbereitschaft gekennzeichnet sei, sagte Juncker und lobte ausdrücklich die Menschen, welche die Flüchtlinge in den vergangenen Tagen an Bahnhöfen in Deutschland willkommen geheißen hatten.
Ähnlich wie Bundespräsident Joachim Gauck, der von einem „hellen Deutschland“ und von „Dunkeldeutschland“ gesprochen hatte, distanzierte sich auch Juncker von denen in Europa, die den Flüchtlingen ihre Hilfe verweigern. Die EU befinde sich in keinem guten Zustand, stellte der Luxemburger gleich zu Beginn seiner Rede fest. „Es fehlt an Europa in dieser Europäischen Union, und es fehlt an Union in dieser Europäischen Union“, sagte er.
Juncker sagte zwar nicht ausdrücklich, von welchen EU-Staaten die Kommission im Einzelnen einen größeren Beitrag bei der Aufnahme der Flüchtlinge erwartet. Aber es war sicher kein Zufall, dass Juncker forderte, die Flüchtlinge nicht nach ihrer Religion zu beurteilen. Das konnte auch als ein Seitenhieb auf den ungarischen Regierungschef Viktor Orban verstanden werden, der sich gegen einen Zustrom von muslimischen Flüchtlingen gewandt hatte.
Ungarn bekäme den Großteil der Flüchtlinge abgenommen
Dabei ist das von der EU-Kommission vorgeschlagene Konzept zur Verteilung der Flüchtlinge in der EU durchaus auch als Entlastung für Ungarn gedacht, wo derzeit besonders viele Flüchtlinge ankommen. Juncker forderte, dass jene Staaten, in denen die meisten Flüchtlinge derzeit zuerst den Boden der EU betreten - also Italien, Griechenland und Ungarn - "nicht mit dieser Herausforderung alleine gelassen werden dürfen".
Bereits im Mai hatte die Kommission gefordert, dass 40.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland nach einem festen Schlüssel auf die übrigen europäischen Mitgliedstaaten verteilt werden sollen. Allerdings konnten sich die EU-Staaten seinerzeit nur zu einer Umverteilung auf freiwilliger Basis durchringen. Nun sollen nach dem Willen Junckers 120.000 weitere Flüchtlinge bei der geplanten Umverteilung hinzukommen. Die Kommission schlägt dabei vor, dass die übrigen EU-Staaten 15.600 Flüchtlinge aus Italien und 50.400 Flüchtlinge aus Griechenland übernehmen. Der größte Anteil der Flüchtlinge würde derweil dem Modell zufolge den ungarischen Behörden abgenommen - nämlich 54.000 Schutzsuchende.
Umverteilung je nach Wirtschaftskraft und Bevölkerungsgröße der Länder
Die verbindliche Umverteilung soll nach den Vorstellungen der Kommission anhand von Kriterien geschehen, die unterschiedlich ins Gewicht fallen. Im wesentlichen soll sich die Aufnahmefähigkeit eines Landes nach der Bevölkerungsgröße und der Wirtschaftskraft bemessen. In geringerem Maße soll auch eine Rolle spielen, in welchem Umfang ein Land in der Vergangenheit Asylbewerber aufgenommen hat und wie hoch die Arbeitslosigkeit ist. Damit kommt die Kommission unter anderem dem Madrider Regierungschef Mariano Rajoy entgegen, der in der vergangenen Woche in Berlin gefordert hatte, dass Spanien wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der bisherigen Asylbewerberzahlen nicht über Gebühr belastet werden dürfe.
Für die Kommission und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellt die Quotenregelung für die weiteren 120.000 Flüchtlinge allerdings nur einen ersten Schritt auf dem Weg zu einem permanenten Umverteilungsmechanismus dar, der je nach Bedarf in Notfällen aktiviert werden kann. Ob der Notfall-Mechanismus zur Verteilung der Flüchtlinge ausgelöst wird, darüber soll die EU-Kommission nach ihren eigenen Vorstellungen künftig auf der Grundlage der Asylbewerberzahlen in den letzten sechs Monaten und der Zahlen der illegalen Grenzübertritte im zurückliegenden Halbjahr entscheiden.
Gemeinsame EU-Liste mit sicheren Herkunftsländern
Um Asylbewerber mit einem berechtigten Anspruch und Flüchtlinge, die ihr Land aus einem anderen Grund verlassen, künftig besser voneinander zu trennen, schlug die Kommission gleichzeitig eine gemeinsame EU-Liste sicherer Herkunftsländer vor. Mit Hilfe dieser Liste könnten Mitgliedstaaten die Asylverfahren mit Flüchtlingen aus Ländern, in denen das Leben als sicher gilt, beschleunigen, erklärte der Kommissionschef.
Juncker fügte allerdings hinzu, dass man den Menschen aus den betreffenden Staaten mit EU-Beitrittsperspektive - Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Kosovo, Montenegro, Serbien und die Türkei - "nicht das Grundrecht auf Asyl nehmen" könne. Der Luxemburger machte deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen der Beitrittsperspektive einzelner Staaten und der Bewertung als sichere Herkunftsländer gebe.
Der Kommissionschef erinnert an die Geschichte der Fluchtbewegungen
Juncker hob hervor, dass die Geschichte des europäischen Kontinents durch Fluchtbewegungen gekennzeichnet sei. Dabei erinnerte er an die aus Frankreich im 17. Jahrhundert vertriebenen Hugenotten sowie die Juden, Sinti und Roma und alle anderen, die aus Deutschland während der Nazi-Herrschaft flüchten mussten. „Haben wir vergessen, dass nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges 60 Millionen Menschen in Europa Flüchtlinge waren?“, fragte der ehemalige luxemburgische Ministerpräsident.
„Wir alle waren zu einem bestimmten Zeitpunkt Flüchtlinge“, sagte er und setzte seine Aufzählung der europäischen Fluchtbewegungen mit einem Blick in die jüngere Historie fort – die Geschichte des Ungarn-Aufstands von 1956, der viele Revolutionäre zur Flucht nach Westeuropa zwang und den Prager Frühling von 1968, nach dessen Niederschlagung ebenfalls viele Menschen ins Exil gingen. Juncker wählte gerade diese Beispiele vermutlich mit Bedacht – denn es sind gerade die osteuropäischen Staaten, die feste Quoten zur Verteilung der Flüchtlinge ablehnen.
Kein leichter Auftritt für den 60-Jährigen
Für Juncker war es indes kein leichter Auftritt am Mittwoch in Straßburg. Am vergangenen Sonntag ist seine Mutter gestorben, und sein Vater ist schwer erkrankt. Dass er dennoch seine mit Spannung erwartete Rede zur europäischen Flüchtlingspolitik hielt und in seiner gut einstündigen Tour d'horizon darüber hinaus auf die Lage in Griechenland nach dem abgewendeten "Grexit", die Zukunft Großbritanniens in der EU und die Situation in der Ukraine zu sprechen kam, begründete der Luxemburger bei der Pressekonferenz anschließend so: Seine Eltern hätten "immer gearbeitet, und deshalb arbeite ich auch". Als er das sagte, war Juncker den Tränen nahe.