Streit um künftigen EU-Kommissionschef: "Juncker ist bisher nicht als Reformer hervorgetreten"
Der Historiker Heinrich-August Winkler über den künftigen EU-Kommissionschef, die Grenzen weiterer Integration und Ratschläge an andere Nationen.
Beim Europäischen Rat in wenigen Tagen müssen die Staats- und Regierungschefs der EU den Streit um den künftigen Kommissionspräsidenten lösen. War es eine gute Idee, erstmals mit Spitzenkandidaten in die Europawahl zu gehen?
Als langjähriges SPD-Mitglied und Unterstützer von Martin Schulz im Wahlkampf habe ich mich gefreut, dass er den deutschen Sozialdemokraten zu einem gewissen Auftrieb verholfen hat. Mir war aber klar, dass mit dem sehr deutschen Begriff des Spitzenkandidaten kein Automatismus verbunden war, wonach der erfolgreichere der beiden Kandidaten Schulz und Jean-Claude Juncker notwendigerweise Kommissionspräsident werden würde.
Ihnen war das klar. Den Wählern wurde aber versprochen, dass sie mit ihrem Votum den Kommissionspräsidenten küren.
Die Verbindung von Spitzenkandidat und Kommissionspräsident war nicht das Wahlkampf bestimmende Element in allen 28 Staaten der EU, das war vor allem in Deutschland und Luxemburg so. Der Lissabonner Vertrag verlangt einen intensiven Dialog zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat. Die Staats- und Regierungschefs dürfen es jetzt nicht zu einem unheilbaren Bruch zwischen den Befürwortern und Gegnern Junckers kommen lassen.
Sind die Vorbehalte gegen Juncker begründet?
In einem Punkt haben die Kritiker Junckers recht: Er ist bisher nicht als Reformer Europas hervorgetreten. Er erweckt den Eindruck, als habe Europa als Eliteprojekt noch eine Zukunft, als bedürfte die weitere Integration nicht einer guten Begründung. Es ist deshalb notwendig, den künftigen Kommissionspräsidenten auf einen Reformkurs festzulegen. Dazu gehört es, bestimmte Kompetenzen von Brüssel auf die Mitgliedstaaten zurückzuverlagern. Das würde die Akzeptanz des Projekts Europa erhöhen.
Würden Sie so weit gehen wie der frühere Bundespräsident Roman Herzog, der in einem Brief an die Kanzlerin eine „Entkoppelung der EU-Institutionen von der Realität der Menschen“ konstatiert und „Abwehrrechte“ der nationalen Parlamente gegenüber übermäßigen Regulierungsvorhaben der EU fordert?
Roman Herzog trifft einen wichtigen Punkt. Das ist ein Grund, warum ich die Parlamentarisierung der Kommissionsspitze für notwendig halte.
Herzogs Idee der „Abwehrrechte“ finden Sie auch überzeugend?
Wo es Überschreitungen des Subsidiaritätsprinzips gegeben hat, sollte eine Vertretung der nationalen Parlamente Einspruch einlegen können.
Welche Kompetenzen sollten rückverlagert werden?
Alles, was mit den Stichworten Überregulierung und Detailregelungswut zu fassen ist. Die strikte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips wäre notwendig: Auf der jeweils untersten Ebene wird geregelt, was dort geregelt werden kann. Weiter oben wird nur das entschieden, was nicht auf einer tieferen Ebene entschieden werden kann. Insofern ist auch ein Dialog mit David Cameron sinnvoll und notwendig. Seine Forderung nach einer Kompetenzverlagerung findet auch in anderen EU-Staaten viel Zustimmung. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, auch weil sie damit Großbritannien ein Ausscheiden aus der EU erschweren würde.
Was würde ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU bedeuten?
Es wäre für das Königreich noch problematischer als für die EU. Aber auch die EU würde verlieren. Ohne Großbritannien wäre sie protektionistischer, illiberaler, krisenanfälliger, sozusagen mediterraner als jetzt. Das Problem einer deutschen Dominanz würde sich in einer solchen amputierten EU noch verschärfen. Wir sollten alles tun, um London in der EU zu halten, ohne vor ultimativen Drohungen in die Knie zu gehen.
Andere Länder sind nicht so integrationsorientiert wie Deutschland
Was wären die Folgen eines Ausscheidens Großbritanniens für die Außenpolitik der EU?
Europa würde in der Welt sehr viel schwächer dastehen, wenn es auf die diplomatischen Erfahrungen und das militärische Potenzial Großbritanniens verzichten müsste. Wie wichtig die Zusammenarbeit der nationalen Regierungen in der Außen- und Sicherheitspolitik ist, hat sich in der Ukraine- Krise gezeigt. Es ist gelungen, die Einheit der EU zu wahren.
Wer verfügt in Europa über mehr Legitimation – das Europäische Parlament oder der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs?
Das Europäische Parlament geht aus allgemeinen, freien Wahlen hervor, hat aber einen Mangel an tatsächlicher Macht. Der Anspruch auf mehr Mitsprache ist berechtigt. Das Parlament will nun deutlich machen, dass es keine Quatschbude ist, sondern Gestaltungsmacht hat. Es könnte so die Verselbstständigung der Exekutivgewalt eindämmen, die in der Vergangenheit viel Unmut provoziert hat.
Was ist mit den nationalen Regierungen?
Richtig ist ebenso, dass die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sind und dass die Staaten die Herren der Verträge sind. Insofern muss ein Ausgleich zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat gefunden werden. Den könnte man erreichen, indem der Kandidat vertraglich auf ein Reformprogramm festgelegt wird – im Mittelalter und in der frühen Neuzeit nannte man das eine Wahlkapitulation. Der gegenwärtige Machtkampf innerhalb der EU gehorcht einer gewissen historischen Logik.
Markiert diese Europawahl eine Zäsur, weil deutlicher als bisher wird, dass die Integration Europas Grenzen hat, dass die Mehrheit in Europa sich zur EU bekennt, aber nicht den klassischen Nationalstaat aufgeben will?
Der sozialdemokratische Außenminister der Niederlande, Frans Timmermans, hat im vergangenen Jahr gesagt, die Zeit der „ever closer union“ sei abgelaufen. Tatsächlich scheint sich in der EU die Einsicht durchzusetzen, dass wir nicht mehr automatisch immer mehr auf europäischer Ebene regeln können. Wir müssen umgekehrt fragen, was wir besser auf nationaler Ebene regeln wollen. Fortschreitende Integration ist kein begründungsfreier Selbstzweck. Sie ist nur da gerechtfertigt, wo die Nationalstaaten überfordert sind. Das Jahr 2014 hat alle Aussichten, als ein Jahr der Zäsuren in die Geschichte einzugehen – ich denke dabei nicht nur an das Ringen um Europa, sondern auch an die internationale Krise um die Ukraine und die dadurch ausgelöste neue Ost-West-Konfrontation.
Wird in Deutschland genügend wahrgenommen, dass andere EU-Länder weniger integrationsorientiert sind als wir mit unserer spezifischen Geschichte?
Definitiv nein. In der Spätphase der alten Bundesrepublik gab es die verbreitete Neigung, das westdeutsche Staatswesen mit Karl-Dietrich Bracher als postnationale Demokratie unter Nationalstaaten zu verstehen. Außerhalb Deutschlands empfand sich kein Land als „postnational“. Anders als in den achtziger Jahren denkt heute kein deutscher Politiker mehr daran, anderen Völkern eine „postnationale“ Identität anzusinnen. Ein solcher Versuch würde außerhalb Deutschlands als neue Spielart deutscher Hybris empfunden.
Warum?
Die Europäische Union ist nicht geschaffen worden, um die Nationen zu überwinden, sondern um sie zu überwölben. Das wiedervereinigte Deutschland ist ein postklassischer Nationalstaat unter anderen. Solche Staaten sind bereit, einige Hoheitsrechte gemeinsam auszuüben oder auf supranationale Einrichtungen zu übertragen. Nicht mehr und nicht weniger.
Müssen wir also Abschied nehmen von der Illusion einer immer weiter fortschreitenden Integration Europas?
Zumindest, wenn man unter Integration einen automatischen Prozess versteht. Vor jeder neuen Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Kommission muss zuerst die bohrende Frage beantwortet werden, ob das sinnvoll und notwendig ist. Und der Preis für die Übertragung von Hoheitsrechten darf auch nicht der Abbau von Demokratie sein.
Das Gespräch führten Christoph von Marschall und Hans Monath.
Der Historiker Heinrich-August Winkler. Infos zur Person
LEHRER
Der Wissenschaftler war nach Stationen in Berlin und Freiburg zuletzt Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität. Seit 2007 ist er emeritiert.
SCHREIBER
Der 75-Jährige ist Autor des Standardwerks „Der lange Weg nach Westen“. Im Herbst erscheint der dritte Band seiner „Geschichte des Westens“ („Vom Kalten Krieg zum Mauerfall“), der vierte Band dann Anfang 2015 („Die Zeit der Gegenwart“).
STREITER
Wie wenige andere Historiker will Winkler politisch wirken – so 1986 im Historikerstreit oder nun in der Debatte um Deutschlands Rolle in der Ukraine-Krise.