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Für den britischen Premier David Cameron (links) ist Jean-Claude Juncker ein Vertreter des alten Europa.
© dpa

EU-Streit um Jean-Claude Juncker: "Wir sind dabei, großes Chaos anzurichten"

Diplomaten in Brüssel schütteln nur noch den Kopf: In der Frage, ob Jean-Claude Juncker EU-Chef werden soll, zerlegt sich die EU. David Cameron will ihn unter keinen Umständen, Angela Merkel schon, aber nur vielleicht. Die Geschichte einer heillosen Verhedderung.

Rabbiner, Imame, orthodoxe Priester, Erzbischöfe und evangelische Würdenträger stehen vereint auf der Bühne. Wer aber denkt, beim jährlichen Treffen der EU-Spitzen mit religiösen Anführern des Kontinents würden spirituelle Themen besprochen, täuscht sich. „Wird Jean-Claude Juncker Präsident der EU-Kommission?“, will ein britischer Journalist von Ratschef Herman Van Rompuy wissen. Trocken gratuliert der Belgier dem Reporter, dass er es geschafft hat, selbst in dieses religiöse Treffen das Thema zu schummeln, das alle EU-Diplomaten seit Wochen umtreibt: „Alle Achtung, eine reife Leistung.“

Sie nennen ihn das „belgische U-Boot“. Weil er so schön abtauchen kann. Ganz im Stillen führt Van Rompuy die Gespräche darüber, ob Juncker, der Spitzenkandidat der Christdemokraten, die aus der Europawahl als stärkste Kraft hervorgegangen sind, nun auch Brüssels wichtigsten Job bekommt.

Zwischen dem EU-Parlament und dem Europäischen Rat ist ein Machtkampf entbrannt – und keine Seite will bisher nachgeben. Die Balance zwischen den EU-Institutionen ist immer schon delikat: Auf der einen Seite steht das EU-Parlament, das einzige direkt gewählte Organ der EU. Daraus ziehen die Abgeordneten viel Selbstbewusstsein. Auf der anderen Seite steht der Europäische Rat, in dem die 28 Staats- und Regierungschefs die Leitlinien der EU vorgeben. Die Kommission, deren Chef Juncker nun werden will, hat in diesem Gefüge eine entscheidende Rolle: Sie allein darf neue Gesetze vorschlagen, die dann von Parlament und Rat abgestimmt werden. Ihr Chef, so der allgemeine Wunsch, soll weder der einen noch der anderen Seite stärker zuneigen.

Infofetzen machen die Runde

Van Rompuy will bis Ende nächster Woche all die gefährlichen Klippen elegant umschifft haben, die mit der Juncker-Frage verknüpft sind. Staats- und Regierungschefs werden dann beim EU-Gipfel in Brüssel einen Personalvorschlag unterbreiten, dem das Parlament zustimmen muss. Solange wird spekuliert, was das Zeug hält. Selbst die Ukraine-Krise oder die Fußball-WM müssen dieser Tage zurückstehen, wenn Brüsseler Abgeordnete, Diplomaten, Journalisten oder Politiker zusammenstehen. Infofetzen machen die Runde, denen jeder den Dreh gibt, der zu seinen eigenen Interessen passt.

Deutungen gibt es viele: Beim Abendessen mit den 28 EU-Botschaftern soll Noch-Kommissionschef José Manuel Barroso kürzlich gesagt haben, es laufe nach der öffentlichen Unterstützung von Angela Merkel nun auch wirklich auf Juncker hinaus. Bei den Briten, die Juncker verhindern wollen, weil er für sie ein „Noch mehr“-Europa statt ein „Lieber weniger“-Europa verkörpert, klingt es dagegen ganz anders. Sie sagen, Merkel habe in der Brüsseler Residenz des britischen Botschafters Premier David Cameron versprochen, ihn beim EU-Gipfel nicht zu überstimmen und eine Konsensentscheidung herbeizuführen. Und nach einer Unterredung Camerons mit Italiens Premier Matteo Renzi hieß es in London, der wolle eine Frau an der Spitze. Genüsslich wird darauf verwiesen, dass Junckers deutscher Wahlkampfmanager Martin Selmayr, den viele schon als dessen Kabinettschef sahen, gerade bei der Osteuropabank angeheuert hat. „Da“, sagt ein britischer Diplomat, „verlässt einer das sinkende Schiff.“

"Wir sind dabei, großes Chaos anzurichten."

Ein Gerücht jagt das andere, und gesicherte Informationen gibt es selbst im Kreis der EU-Botschafter kaum. „Das ist absolute Chefsache. Und ich gehöre nicht zu der sehr kleinen Gruppe von Menschen, die wirklich weiß, was gerade vor sich geht“, gibt einer dieser Botschafter bei einem Treffen in seinem Büro zu. Wenn sich die „Chefs“ nicht gerade bei EU-, G-7-Gipfeln oder D-Day-Feiern in der Normandie treffen, telefonieren sie oder ihre allerengsten Mitarbeiter miteinander. Die hektischen Aktivitäten reißen nicht ab: In dieser Woche reist Van Rompuy zu Renzi nach Rom. Merkel empfängt Dänemarks Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt, die auch schon als heiße Kandidatin für den Kommissionschefposten gehandelt wird. „Die wichtigste Akteurin ist wie immer die Kanzlerin, aber sie wurde in eine schwierige Lage gedrängt“, meint der Botschafter: „Und nun sind wir dabei, großes Chaos anzurichten.“

Vertrackt ist die Ausgangslage in diesem Poker um die Macht in Europa. So unversöhnlich stehen sich die Lager gegenüber, dass ein Ausweg kaum möglich scheint. „Es gibt nur noch schlechte Lösungen“, sagt einer, der über Van Rompuys Vermittlungsbemühungen Bescheid weiß: „Alle haben die Probleme kommen sehen, aber niemand hat ihn aufgehalten.“

Auch Angela Merkel nicht, obwohl sie nie eine Freundin der Idee war, dass der von der stärksten Partei nominierte Spitzenkandidat Kommissionschef werden soll. Aus Berliner Zirkeln wird gar kolportiert, sie sehe die damit verbundene Stärkung von Kommission und Parlament als Versuch, die über die Euro-Krisenjahre gewachsene Macht der Kanzlerin zu brechen. Doch Martin Schulz, Spitzenkandidat der Sozialdemokraten und Präsident das Parlaments, trieb das europäische Demokratisierungsprojekt voran und setzte die Christdemokraten unter Druck, dem Beispiel zu folgen. Anfang März schließlich saß auch Angela Merkel in Dublin auf dem Podium des Parteitags ihrer Europäischen Volkspartei, der Juncker zum Spitzenkandidaten kürte.

Junckers größtes Problem: Bedenken kommen nicht nur aus Großbritannien

Es war ein politisches Versprechen, das auch andere Staats- und Regierungschefs in ihrer Eigenschaft als Parteivorsitzende unterstützten. Einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rats zu dem Prozedere aber gab es nie – weil manche Regierungen ein grundsätzliches Problem damit haben, sich die Kandidatenkür vom Europaparlament derartig aus der Hand nehmen zu lassen. Laut EU-Vertrag sind sie nämlich nur dazu verpflichtet, das Ergebnis der Europawahl irgendwie zu „berücksichtigen“.

Jean-Claude Juncker selbst hat seit der britischen Kampagne gegen ihn Paparazzi in den Bäumen gegenüber seiner Wohnung sitzen, die ihn wohl am liebsten mit Zigarette und Glas in der Hand ablichten würden. Er muss Schlagzeilen von der Machart „Junck the Drunk“ in der „Sunday Times“ ertragen, die ihn als Säufer darstellen. Gerüchte über ein Alkoholproblem gab es schon vor der EU-Wahl, doch so aggressiv wurde es bisher nicht behandelt. Juncker selbst hat ein Suchtproblem immer wieder dementiert.

Junckers größtes Problem aber ist nicht die Boulevardpresse, sondern dass die Bedenken gegen seine Kür nicht nur aus Großbritannien kommen. Schwedens und Ungarns Regierungsvertreter bezeichneten Juncker schon mal als „Auslaufmodell“. Immer öfter wird er jetzt auch in anderen Ländern als Vertreter des „alten Europa“ bezeichnet, ein Mann, der nicht für einen Aufbruch stehe.

Nicht nur das EU-Parlament muss sich kritisieren lassen

Bei strahlendem Sonnenschein sitzt einer, der für die Regierung des stets proeuropäischen Belgiens arbeitet, bei Bier und Käse am Brüsseler Place du Luxembourg. Er zeigt auf das Gebäude des EU-Parlaments, wo sie angekündigt haben, jeden anderen Kandidaten außer Juncker ablehnen zu wollen. Er ist damit nicht einverstanden. „Die Ansicht, dass das Parlament die einzige demokratische Institution auf EU-Ebene und der Europäische Rat ein antidemokratischer Haufen ist, teilen wir nicht“, sagt er. „Das sind gewählte Staats- und Regierungschefs, die ihre Bevölkerung repräsentieren.“ Daher habe sich sein Ministerpräsident Elio di Rupo bisher nicht für Juncker ausgesprochen, wenngleich er ihn notfalls mittrage. Aber nur zur Not, denn der Luxemburger mache eben nicht mehr den frischesten Eindruck für den Job an der Spitze der 40 000-Mann-Behörde mit vielfältigsten Verpflichtungen, der alle Kraft fordert: „Da kann Juncker nicht wie früher in der Euro-Gruppe bei einem Gin Tonic an der Bar alles nebenbei klären.“

Aber nicht nur das EU-Parlament muss sich in dem Konflikt kritisieren lassen. Vor allem wundert sich der belgische Regierungsvertreter über die Engländer. „Die Briten sind eigentlich die Weltmeister der Diplomatie. Es war aber ein Riesenfehler von Cameron, so krass Front gegen Juncker zu machen – dadurch hat er Merkel gezwungen, Juncker öffentlich beizuspringen.“ Nun stehe Merkel im Wort, obwohl sie selbst nicht überzeugt sei. Ein Ausweg ist kaum erkennbar. „Es wäre wohl für alle am einfachsten“, resümiert der Diplomat, „wenn Juncker von sich aus zurückzöge.“ Der denkt aber bisher nicht an Rückzug – zumindest nicht öffentlich.

Währenddessen wird beim Rat versucht, die Debatte vom Spitzenkandidaten weg und stärker darauf zu drehen, wo es denn inhaltlich mit Europa hingehen soll. Und so brüten die Stäbe von Merkels engsten Beratern derzeit über Papieren, die den Kurs der Gemeinschaft in den nächsten Jahren bestimmen sollen. Taktischer Nebeneffekt: David Cameron könnte überzeugt werden, dass eine Linie verfolgt wird, die ihm passt – auch mit Juncker.

Ein Personalpaket, das alle glücklich macht

Ein anderer Versuch wäre, ein größeres Personalpaket zu schnüren, das alle irgendwie glücklich macht. Dazu würden dann viele Posten gehören: der Kommissionschef, der nächste Ratspräsident, das Amt des EU-Außenbeauftragten und der Euro-Gruppen-Chef, außerdem wichtige Kommissarsposten für den Binnenmarkt, die Währungsunion, Energie oder Wettbewerb.

Auf eine solche Lösung hoffen sie auch in der französischen EU-Vertretung neben der Kathedrale St. Michel im Herzen von Brüssel. „Eigentlich müsste Cameron einschlagen, weil er jetzt einen hohen Preis für seine Zustimmung zu Juncker aushandeln kann“, meint ein Diplomat, „die Frage ist, ob er damit daheim durchkommt.“ Ein Besuch bei den Franzosen zeigt aber auch, wie schwer gerade eine Verständigung über die Zukunftsaufgaben sein wird. Denn Staatschef François Hollande verlangt – so wie auch sein italienischer Kollege Renzi und die sozialistische Parlamentsfraktion – ebenfalls politisches Entgegenkommen für ihre Zustimmung zum Christdemokraten Juncker. „Mehr Solidarität und weniger strenge Haushaltsregeln“, sagt der Diplomat und meint damit Dinge wie Euro-Bonds oder Konjunkturprogramme – Dinge also, bei denen sich Merkel wie Cameron die Haare sträuben. Und es klingt auch nicht unbedingt nach einer schnellen Lösung, wenn er sagt, dass im Sommer noch ein EU-Sondergipfel einberufen oder das Mandat der EU-Kommission noch um ein paar Monate verlängert werden könnte.

Das Treffen der Religionsführer mit Van Rompuy und Barroso ist beendet. Vor dem Eingang des Kommissionsgebäudes steht einer der vielen Sprecher der EU-Behörde und berichtet, dass er und sein Kommissar sich schon auf eine längere Amtszeit über den Oktober einrichten. Und dann? Auch er stellt sich nun auf den Spitzenkandidaten ein, aber nicht eben begeistert: „Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident? Das kann ja heiter werden.“

Mitarbeit: Elisa Simantke

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