Ein Deal, aber nicht um jeden Preis: Johnson könnte Verhandlungen mit EU am Freitag platzen lassen
Der britische Premier Boris Johnson will direkt nach dem EU-Gipfel über eine Fortsetzung der Gespräche entscheiden. Darum geht es jetzt im Kern.
Es ist nicht vorbei, bis es vorbei ist. Dieser Spruch gilt auch für den Brexit. Selbst viereinhalb Jahre nach dem Referendum geht die Hängepartie um den britischen EU-Austritt weiter und zehrt an den Nerven tausender Unternehmer und zehntausender Arbeitnehmer, die zum Jahresende wirtschaftliches Chaos fürchten.
Der britische Premier Boris Johnson hält sich vorerst offen, die Verhandlungen und damit auch das avisierte Handelsabkommen mit der Europäischen Union platzen zu lassen. Er will nach dem bis zu diesem Freitag dauernden EU-Gipfel entscheiden und sich am gleichen Tag noch äußern.
Die EU will weiter verhandeln, gab sich aber ihrerseits am Donnerstag strikt. Es sei an Großbritannien, „die nötigen Schritte zu tun, um ein Abkommen möglich zu machen“, beschlossen die Staats- und Regierungschefs in einer Gipfelerklärung. Man wolle einen Deal, aber nicht zu jedem Preis, sagte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Halten beide Seiten eine Einigung noch für möglich?
Die Stimmung schwankt, aber noch gibt es Hoffnung. Während Johnson bislang versprach, dass Großbritannien auch ohne Einigung eine „fantastische Zukunft“ bevorstehe, betont er nun, dass London und Brüssel von einem Handelspakt profitieren könnten.
Staatsminister Michael Gove bezifferte die Erfolgsaussichten für einen Deal auf 66 Prozent. Der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange sieht die Chance nur bei 40 Prozent und bemüht das deutsche Liedgut: „Entweder Katja Ebstein: „Wunder gibt es immer wieder“ oder Christian Anders: „Es fährt ein Zug nach nirgendwo“.“
Viele in Brüssel sind verärgert, seit Johnson mit seinem Binnenmarktgesetz versucht, Sonderregeln für Nordirland im bereits gültigen Brexit-Abkommen auszuhebeln. London spricht von einem „Sicherheitsnetz“, Brüssel indes von Vertragsbruch. Misstrauen trübt nun die Verhandlungen über das neue Abkommen.
Worüber wird eigentlich verhandelt?
Ein Handelspakt soll die Beziehungen nach der wirtschaftlichen Trennung neu regeln. Großbritannien hat die EU zwar schon im Januar verlassen, ist aber bis zum Jahresende noch im Binnenmarkt und in der Zollunion. Der Vertrag soll Zölle verhindern und den Handel so störungsfrei wie möglich halten.
Etliche weitere Themen werden mit verhandelt, darunter polizeiliche Zusammenarbeit, Datenschutz, Klimaschutz, Sozialversicherungsfragen, Aufenthaltsrechte und vieles mehr. Ein mehrere hundert Seiten starkes Abkommen soll zum 1. Januar 2021 in Kraft treten - eigentlich. Doch zweieinhalb Monate vor dem Stichtag gibt es noch immer keinen beiderseits akzeptierten Vertragstext.
Man habe zwar Fortschritte in vielen Punkten gemacht, aber eben noch nicht in den entscheidenden, heißt es auf beiden Seiten.
Woran hängt es?
Es gibt drei Knackpunkte: Da ist zum einen der Zugang für EU-Fischer zu britischen Gewässern - für die EU-Küstenstaaten wie Frankreich ist das ein ebenso emotionales Thema wie für Großbritannien, das endlich alleine über seine reichen Fischgründe bestimmen will.
Zweiter zentraler Punkt ist das sogenannte Level Playing Field: Die EU will im Gegenzug für zollfreien Zugang zum Binnenmarkt gleiche Umwelt-, Sozial- und Beihilfestandards als Schutz vor Dumping. Doch Großbritannien will sich von der EU nicht mehr reinreden lassen.
Das gilt auch für Punkt drei, die sogenannte Governance: Die EU verlangt ein zuverlässiges Schlichtungsinstrument für den Fall, dass eine Seite vom Vertrag abweicht. Damit beißt sie in London auf Granit.
Welche Rolle spielt Premier Boris Johnson bei den Verhandlungen?
Johnson war über weite Strecken kaum präsent, allenfalls in wortgewaltigen Reden von London aus. Kritiker werfen ihm vor, ein Großmaul und schlechter Krisen-Manager zu sein, der beim Brexit - ebenso wie bei der Bekämpfung der Corona-Krise - einen Schlingerkurs fahre.
Nach einem Telefonat mit EU-Ratschef Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwochabend ließ der Premier erklären, ein Deal sei zwar „wünschenswert“, doch sei er enttäuscht über die langsamen Fortschritte. Er werde nach dem Gipfel reflektieren und dann über die nächsten Schritte Großbritanniens entscheiden. Er wolle sich am Freitag äußern, twittere sein Chef-Unterhändler David Frost am Donnerstagabend.
Wer wären die Verlierer bei einem No Deal?
Wohl die meisten. Die Auswirkungen für Großbritannien dürften Prognosen zufolge erheblich sein: Zölle und weitere Handelshemmnisse würden eingeführt, Tausende Lastwagen könnten sich wegen der Grenzkontrollen im Raum Dover stauen, Regale in Supermärkten und Apotheken leer sein - dies wäre wohl das Letzte, was das von der Pandemie getroffene Vereinigte Königreich gebrauchen könnte.
Auch die EU-Staaten würden gebeutelt. Zehntausende Jobs seien in Gefahr, warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie erst am Mittwoch gemeinsam mit Wirtschaftsverbänden in Frankreich und Italien. In Deutschland sorgt sich vor allem die angeschlagene Autobranche. In Großbritannien drohen zusätzlich innenpolitische Verwerfungen: Schottlands Bestreben nach Unabhängigkeit könnte noch größer werden und die Oppositionspartei Labour punkten. (dpa)
Verena Schmitt-Roschmann, Silvia Kusidlo