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US-Präsident Joe Biden während seiner Rede.
© Melina Mara/Pool via Reuters

„Amerika ist wieder im Spiel“: Joe Biden beschwört vor dem US-Kongress den Neuanfang

Biden will die USA tiefgreifend verändern. Seine erste Ansprache als Präsident vor dem US-Kongress nutzt er, um Optimismus zu verbreiten – mahnt aber auch.

„America is on the move again“: In seiner ersten Rede als US-Präsident vor beiden Kammern des Kongresses hat Joe Biden für Tempo beim Umbau der USA geworben. In den 100 Tagen seit seiner Vereidigung am 20. Januar zeigte der 78-jährige Demokrat eine bemerkenswerte Tatkraft. Mehr als 60 Regierungserlasse („executive order“), ein im Kongress verabschiedetes 1,9-Billionen-Dollar-Konjunkturpaket („American Rescue Plan“) und einen öffentlich vorgestellten Infrastrukturplan in Höhe von 2,2 Billionen Dollar („American Jobs Plan“).

In der Nacht zu Donnerstag stellte er den dritten Teil seiner ehrgeizigen Agenda vor: den „American Family Plan“, ein 1,8 Billionen schweres Sozialpaket. Biden trug in der Rede vor dem Kongress sein Regierungsprogramm vor. Er plant nicht weniger als einen Neustart des amerikanischen Systems.

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Was ihm vorschwebt, vergleichen viele bereits mit Franklin D. Roosevelts „New Deal“. Die durch die Pandemie ausgelöste Krise begreift Biden als Jahrhundertchance: Er will nicht nur reparieren, er will das Land modernisieren und damit für die Zukunft fit machen – um, wie er explizit sagte, im Wettbewerb mit China und anderen Ländern zu bestehen.

Geradezu revolutionär für amerikanische Verhältnisse ist, dass er dabei dem Staat eine deutlich größere Rolle zuweisen möchte, als Amerikaner das bislang gewohnt sind. „Big government“ soll kein Schimpfwort mehr sein. Nur wenn die USA massiv in Infrastruktur, Forschung und Bildung investierten, könnten sie ihre internationale Führungsrolle verteidigen. „Der Rest der Welt wartet nicht auf uns.“

Jeder müsse seinen Teil beisteuern, so Biden

Angesichts der riesigen Probleme, die er geerbt habe, habe seine Regierung in den ersten 100 Tagen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Demokratie wiederherstellen müssen. Das, so sieht es der Präsident, ist gelungen.

Hier sehen Sie Bidens Rede vor dem US-Kongress im Video:

Und dann erwähnte er explizit jenen demokratischen Präsidenten, mit dem er sich offenbar messen will: „In einer anderen Zeit, als unsere Demokratie schon einmal getestet wurde, hat uns Franklin Roosevelt daran erinnert, dass wir in Amerika alle unseren Teil beisteuern. Das ist alles, um was ich bitte: dass alle ihren Teil tun.“ Dann werde Amerika gewinnen.

Biden ging darauf ein, dass manche Partner durchaus Zweifel an der Führungsrolle Amerikas hätten. Bei seinen Gesprächen mit anderen Staatschefs höre er oft: „Wir sehen, dass Amerika zurück ist – aber für wie lange wohl?“ Gemeinsam müssen man nun zeigen, dass man dauerhaft zurück sei und dass man mit anderen zusammenarbeiten werde. „Keine Nation kann mit allen Krisen unserer Zeit allein zurechtkommen.“

„Einzigartig in der Welt“

Kurz ging er hier auf den Klimawandel ein, den man gemeinsam bekämpfen müsse. Biden erwähnte, dass er ja schon in seinen ersten 100 Tagen zu einem Klimagipfel eingeladen hätte, an dem auch der chinesische Präsident teilnahm, was schon mal als Erfolg interpretiert wurde.

Am Mittwoch erklärte Biden, dass er den Wettstreit mit China begrüße – aber amerikanische Interessen verteidigen werde, etwa, wenn es um unfaire Handelspraktiken oder den Diebstahl geistigen Eigentums gehe. Auch werde Amerika Menschenrechte und grundlegende Freiheiten hochhalten. „Kein amerikanischer Präsident kann schweigen, wenn grundlegende Menschenrechte verletzt werden.“ Amerika sei eine Idee – „einzigartig in der Welt“.

Biden will Mitte der Gesellschaft stärken

Vor einem Bruchteil der normalen Zuhörer bei solch einer Rede – die Coronavirus-Krise macht auch vor Traditionen wie diesen nicht halt – erklärte Biden: „Ich habe ein Land in der Krise geerbt.“ Nun wolle er „Risiken in Möglichkeiten, Krisen in Chancen, Rückschritte in Stärke“ verwandeln. „Das Leben kann uns umhauen. Aber in Amerika stehen wir immer wieder auf.“ Genau das passiere gerade in diesem Land. „Wir arbeiten wieder. Wir träumen wieder. Entdecken wieder. Und führen die Welt wieder an.“

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Sein Land will der Präsident unter anderem damit fit für die Zukunft machen, dass er die Mitte der Gesellschaft stärkt. Sein „American Family Plan“ sieht darum mehr Mittel für Vorschulunterricht für Kinder und die Hochschulbildung sowie Steuererleichterungen für Familien vor.

Reiche sollen höhere Steuern zahlen

Finanziert werden soll dies durch höhere Steuern für Reiche. Diese müssten „ihren fairen Anteil zahlen“. Konkret meint er damit Menschen, die mehr als eine Million Dollar im Jahr verdienen. Zur Begründung bemühte er das Argument, dass die Pandemie die Ungerechtigkeiten im Land noch verschärft habe. Nur 650 Leute hätten ihr Vermögen in der Krise um mehr als eine Billion Dollar erhöht. „Sie besitzen nun mehr als vier Billionen.“

Biden pries außerdem die auf den Weg gebrachten finanziellen Hilfen in der Krise und die Fortschritte beim Impfen: An diesem Donnerstag würden mehr als 220 Millionen Dosen verimpft sein, kündigte er an. Versprochen hatte er 100 Millionen in den ersten 100 Tagen – wohl wissend, dass diese Marke leicht erreichbar sein würde. So schafft man positive Überraschungsmomente.

Biden fordert zum Impfen auf

Allerdings sinkt die Impfquote seit einiger Zeit, vor allem Wähler in konservativen Teilen des Landes, aber auch Afroamerikaner sind hier skeptisch. Der Präsident forderte seine Bürger nachdrücklich auf, sich impfen zu lassen.

Eine Stunde und fünf Minuten sprach der Präsident am Vorabend seines 100-Tage-Jubiläums, und auf Twitter wurde fast erstaunt angemerkt, dass er sich außer beim Wort „Eskalation“ kaum verhaspelt habe. Nach vier Jahren Donald Trump war für viele wohl noch ungewohnter, dass er den politischen Gegner kaum angriff. Seine Botschaft soll inklusiv und optimistisch sein.

Offen bleibt allerdings, wie viel Kompromissbereitschaft Biden, der sich im Wahlkampf als „Dealmaker“ verkauft hatte, mit Blick auf die Republikaner noch zeigen wird. Am Abend rief er diese zwar zur Zusammenarbeit auf: „Wir können nicht so beschäftigt damit sein, miteinander zu konkurrieren, dass wir den Wettbewerb mit dem Rest der Welt um das 21. Jahrhundert vergessen.“

Der Republikaner Tim Scott antwortete auf Joe Bidens Rede.
Der Republikaner Tim Scott antwortete auf Joe Bidens Rede.
© Drew Angerer/Getty Images/AFP

Bei der Antwort auf Bidens Rede, die Tim Scott, der einzige schwarze Republikaner im Senat und einer von nur drei schwarzen konservativen Kongressmitgliedern, in diesem Jahr halten durfte, deutete indes wenig daraufhin, dass die Republikanische Partei das als ehrliches Angebot empfindet. Ausgaben, die die Wirtschaft schwächten, hätten nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun, sagte der Senator aus South Carolina.

Hoffen auf Republikaner Manchin

Dabei helfen, ein paar moderate Republikaner auf die Seite der Demokraten zu ziehen, soll Joe Manchin. Er steht selbst unter genauester Beobachtung: Mindestens einmal zeigte CNN während Bidens Rede den Senator aus West Virginia, dem angesichts der hauchdünnen Mehrheit der Demokraten enorme Bedeutung bei der Umsetzung von Bidens Plänen zukommt. Der moderate Demokrat hat sich selbst bereits skeptisch über die hohen Summen geäußert, die der Präsident ausgeben wolle.

Ob der ihn überzeugt hat, werden die kommenden Wochen zeigen. Von Journalisten im Anschluss an Bidens Rede befragt erklärte Manchin, er kenne noch zu wenige Details des neuen Vorschlags und werde sich das in aller Ruhe anschauen. Da weiß einer, welche Macht er hat.

Was die Pandemie in diesem Jahr auch noch veränderte: Für Bidens Rede musste kein Regierungsmitglied als „designated survivor“ ausgewählt werden und an einem sicheren Ort warten, bis die Spitzen des Landes den Kongress wieder verlassen hatten.

Es waren ja ohnehin nur 200 statt der üblichen 1400 Zuhörer im Plenarsaal des Repräsentantenhauses. Das letzte Mal, dass dieser Saal eine solche Aufmerksamkeit erhalten hat, war übrigens am 6. Januar, als aufgeputschte Anhänger des Wahlverlierers Trump den Kongress stürmten, um die Bestätigung von Bidens Sieg zu verhindern. Seit diesem schwarzen Tag für die amerikanische Demokratie ist wirklich schon viel Zeit vergangen.

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