Alt werden: Jenseits der Ofenbank
Die Deutschen werden immer älter, ohne alt zu sein. Das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit von über 70-Jährigen steigen rasant. Langsam wandeln sich auch die Bilder vom Altern. Und neue Zwänge entstehen. Ein Essay.
Die alte Dame sitzt auf der Ofenbank, sie lehnt gegen die grünen Kacheln. Es ist ein kühler Sommertag, dunkle Wolkenfetzen wirbeln um die Gipfel des Karwendelgebirges bei Wallgau, doch von ihrem Platz reicht der Blick nur bis auf die Straße. In der Stube des Gasthofs „Zur Post“ ist es warm, es läuft ein Schlager. „Du warst so verliebt in das Leben ...“ Die alte Dame wippt ganz leicht im Takt dazu. Es ist schwer zu sagen, wie alt sie ist. 85 vielleicht, 95? Ihr Haar ist braun und makellos frisiert. Sie trägt ein blau und grün kariertes Kostüm, bayerische Eleganz, ein guter Stoff. Sicher ist sie kein Gast, eher die Hausdame. „Und dein Herz schlug immer ganz frei.“ Es ist die stille Stunde zwischen dem Mittagessen und dem Nachmittagskaffee. Die Gaststube ist leer bis auf die Dame und uns, eine junge Familie in regennasser Kleidung. „Bitt’ schön.“ Ein Mann in den 60ern, vielleicht der Sohn, bringt einen Teller aus der Küche, Braten, Rotkraut, Kloß. Die Dame schneidet das Fleisch mit Bedacht. „Für den Augenblick und die Zärtlichkeit“, singt es aus dem Radio. Dann legt sie die Serviette zur Seite, schließt die Augen und nickt ein.
Die Deutschen werden immer älter, ohne alt zu werden
Die alte Dame auf der Ofenbank ist mir aus dem letzten Sommerurlaub in Erinnerung geblieben, weil sie mir als ein so friedliches und zugleich seltenes Bild vom Altern erschien. Das Altern erhält zurzeit immer mehr die Aufmerksamkeit, die es verdient: Die Zahl der Bücher und Studien zur „langlebigen Gesellschaft“ nimmt zu. Seit dieser Woche zeigt das Museum für Kommunikation in Berlin eine Ausstellung mit dem Titel „Dialog mit der Zeit“. In den Leitbildern, die nun gezeichnet werden, spielt die Ofenbank keine Rolle mehr.
Dass wir immer älter werden, ist bekannt. Der demografische Wandel ist der Ohrwurm der Sozialpolitik, untrennbar verknüpft mit der Warnung vor einem Kollaps der Renten- und Sozialsysteme. Innerhalb von 100 Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland von rund 40 auf rund 80 Jahre gestiegen. 1956 waren 100 Menschen in Deutschland über 100 Jahre alt, heute sind es bereits 14 200. 2030 wird ein Drittel der Deutschen älter als 65 sein.
Was gerade erst ins kollektive Bewusstsein sickert: Wir werden zwar immer älter, aber wir sind immer länger nicht richtig alt.
Verdammt gut sah Udo Jürgens aus, als er im vergangenen Jahr mit 80 gegangen ist. „Mitten im Leben“ hieß sein letztes Album. Damit ging er noch im Sommer vor seinem Tod auf Tournee. In dieser Woche starb der portugiesische Regisseur Manuel de Oliveira. Er wurde 106 Jahre alt. Seinen letzten Film drehte er mit 105. Unser Finanzminister ist 72, der Bundespräsident 75. Würde Hillary Clinton amerikanische Präsidentin, wäre sie bei Amtsantritt 69 Jahre. 80 ist das neue 60, heißt es, 60 das neue 40.
Wissenschaftler des DIW können zeigen: Die heutigen über 70-Jährigen sind fitter denn je
Zahlreiche Studien belegen, dass es sich dabei keineswegs um prominente Einzelfälle handelt. Eben haben Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung eine weitere Bestätigung dafür in den Daten des „Socio Economic Panels“ gefunden. Sie verglichen „statistische Zwillinge“ aus den beiden Berliner Altersstudien von 1990–1993 und 2013–2014 und kommen zu dem Schluss: Über 70-Jährige fühlen sich heute signifikant wohler als die über 70-Jährigen vor 20 Jahren und sind zu deutlich höheren geistigen Leistungen fähig. Der niederländische Mediziner und Altersforscher Rudi Westendorp schreibt in seinem jüngsten Buch, das im Februar auf Deutsch erschienen ist: Biologisches und kalendarisches Alter werden zunehmend entkoppelt („Alt werden, ohne alt zu sein – Was heute möglich ist“, C. H. Beck, 286 Seiten, 19,95 Euro, Kindle-Ausgabe 15,99 Euro).
„Na, wie sehen wir aus?“, fragt Horst Morawietz mit einem verschmitzten Lächeln. Ich habe ihn nicht kommen hören. Zu vertieft war ich in die Gesichter der alten Männer und Frauen, die im Eingangsbereich der Ausstellung „Dialog mit der Zeit“ im Museum für Kommunikation zu sehen sind. Es sind die 33 „senior guides“, die das Museum rekrutiert hat. Nur in ihrer Begleitung kann man die Ausstellung besuchen. Sie sind alle über 70. Ihre Gesichter haben etwas Ruhendes und doch Beherztes, das mich, die ich mitten in der „Rushhour“ stecke, sehnsüchtig macht.
Nachdem er in Rente gegangen war, studierte er Literatur, Religionswissenschaft, Judaistik. Unter anderem
Horst Morawietz, 77 Jahre alt, würde es nicht einfallen, auch nur eine Minute auf der Ofenbank zu sitzen. Es ist 10 Uhr 15 am Karfreitag, die Stadt ist noch still, aber Morawietz ist hellwach. Er führt die kleine Besuchergruppe in ein stilisiertes Wohnzimmer und lässt uns um einen Tisch Platz nehmen. Dann fasst er sein Leben auf die Länge einer Tagesschau-Meldung zusammen: Kriegskind, der Vater früh gestorben, eine Kindheit in den Ruinen von Berlin, Mittlere Reife. Den Traum vom Theaterstudium kann er sich als Halbwaise „in die Haare schmieren“. Er wird Versicherungskaufmann, nicht aus Neigung, dennoch macht er seine Sache gut und „ein bisschen Karriere“. 25. Dienstjubiläum vor braun-orange gemusterten Gardinen, Sektgläser und üppige Bouquets in Zelophan. Morawietz hört früher auf, um seine Frau zu pflegen, bis zu ihrem Tod 2008.
Bei der Versicherung war am 21. Oktober 2000 Schluss. Am 1. November 2000 sitzt Morawietz in der ersten Literaturvorlesung. Er studiert außerdem Kunstgeschichte, Philosophie, Judaistik und Religionswissenschaft. Zuletzt hat er mal ein Semester pausiert – weil er zwei Monate durch Neuseeland gereist ist. Dass das Museum für Kommunikation Führer für die Ausstellung sucht, hat Morawietz aus einer Anzeige im Tagesspiegel erfahren. „Da stand: Wir suchen Menschen über 70. Da hab’ ich genauer hingeguckt. Das liest man ja sonst nie.“
Altersforscher werden nicht müde zu betonen, dass wir die Alten noch immer zu oft geistig auf die Ofenbank setzen. „Unsere emotionale und soziale Anpassung an diese Revolution hinkt stark hinterher“, schreibt der Gerontologe Westendorp. Seine amerikanische Kollegin Laura Carstensen, die das Stanford Center for Longevity leitet, kämpft gegen eine ganze Reihe von Altersmythen an: Weder seien Ältere weniger produktiv, noch einsamer, noch depressiver, noch weniger kreativ. Auch die Politik will die Altersbilder ändern. In dieser Woche hat Joachim Gauck („Ich bin ein lebendes Exponat“) die Ausstellung in Berlin eröffnet. In seiner Rede sagte er, es brauche „neue Muster für lange Lebensläufe, neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit und Privatem“, eine neue „Lebenslaufpolitik“.
{Wie es der alten Dame auf der Ofenbank heute geht - und warum Krankheit relativ ist}
Ich denke wieder an die alte Dame. Stimmt das Bild vom zufriedenen Leben auf der Ofenbank? Ich rufe in Wallgau an. Ihre Schwiegertochter Annette Neuner geht ans Telefon. Bis heute ist das Hotel-Restaurant „Zur Post“ ein Familienbetrieb. Die alte Dame, erfahre ich, ist 98 Jahre alt und heißt Elli Neuner. Gemeinsam mit ihrem Mann Hans hat sie den Gasthof zu dem gemacht, was er heute ist. Sie war aktiv bis in die 1980er Jahre, also bis in ihre späten 60er. Dann zog sie sich aus dem Tagesgeschäft zurück, blieb aber natürlich, wie alle in der Familie, einfach da. „Ihr Leben war und ist dieses Haus“, sagt Annette Neuner.
Ob ich sie einmal sprechen kann, frage ich? Das sei schwierig, sagt die Schwiegertochter. Seit dem letzten Sommer sei es doch „rapide abwärtsgegangen“. Elli Neuner ist gestürzt, Oberschenkelhalsbruch. Seitdem hat die Verwirrung zugenommen, sie braucht jetzt Pflege. Jeden Morgen kommt eine Hilfe zum Anziehen und Duschen. Den Rest erledigt die Familie. Ob sie zufrieden ist? Annette Neuner überlegt. „Alt werden ist ja nicht immer schön“, sagt sie. „Man muss viel Abschied nehmen, da fließt schon mal eine Träne. Aber, doch, ich würde schon sagen, dass sie zufrieden ist.“
Die Phase der Gebrechlichkeit vor dem Tod bleibt von den Verbesserungen im Leben der Älteren abgeschnitten, sagen viele Altersforscher. Wir verschieben sie lediglich immer weiter nach hinten. Selbst für Ärzte, die sich auf das Altern spezialisiert haben, ist von außen oft lang nicht erkennbar, wie „gebrechlich“ jemand schon ist. Noch ist auch viel zu wenig über die Mikrobiologie des Alterns und ihr Zusammenspiel mit der Umwelt bekannt. Rudi Westendorp vergleicht es mit einem alten Glas, das schneller zerspringt als ein neues. Selbst, wenn es von außen noch intakt aussieht: In die Materialstruktur hat sich eine Vielzahl Fehler eingeschlichen. Ein Ereignis wie ein Sturz kann dann eine Kettenreaktion auslösen.
Auf die alten Bilder vom Altern folgen neue Klischees
Folgt man Westendorp, ist dieser zunächst versteckte und dann plötzlich offensichtliche Prozess des Alterns aus medizinischer Sicht nicht „normal“, sondern wie eine Krankheit, die man bekämpfen kann. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat sich die Sichtweise auf viele vermeintlich „normale“ Alterungserscheinungen geändert. Osteoporose zum Beispiel galt einmal als „Materialverschleiß“. Heute ist Knochenschwund eine Krankheit, die man möglichst früh aufspüren und behandeln sollte.
Das Kranksein ist gerade im Alter relativ. Tatsächlich sind nämlich die heutigen Alten, obwohl sie sich deutlich wohler fühlen, nicht weniger „krank“. Im Gegenteil. Chronische Krankheiten nehmen zu, ebenso die „Multimorbidität“, das Zusammenfallen mehrerer Krankheiten. Medizin und Technik aber steigern dennoch das Befinden. Wer sein eigenes Knie nicht mehr beugen kann, bekommt eben ein neues.
Im „Erlebnisraum“ der Ausstellung im Museum für Kommunikation schnallen wir uns schwere Gewichte an die Füße und steigen eine Treppe, um nachzuempfinden, wie Altsein sich anfühlen kann. Muskelschwund, steht auf einer Erklärtafel, begleitet fast immer das Älterwerden. Bewegung kostet mehr Mühe – oder mehr Training. Man soll sich deshalb viel bewegen, steht dort.
Man ist so alt, wie man sich fühlt, das trifft immer stärker zu, und es ist einerseits ein Fortschritt. Die Subjektivierung des Alterns nimmt ihm das Stigma. Andererseits droht die Gefahr, die medizinisch-technische Machbarkeit als grenzenlos anzusehen und die Verantwortung für Gebrechen auf den Einzelnen zu übertragen. Die Grenze zwischen Nicht-Können und Nicht-Wollen verschwimmt scheinbar. Nicht mehr der Alte an sich wird stigmatisiert, aber der, der sich weigert durch lebenslanges Lernen, durch Gehirnjogging, mit Pillen, Ersatzteilen alterslos zu bleiben. Das Wort vom „Ruhestand“ habe ausgedient, sagte Joachim Gauck. Das ist emanzipatorisch gemeint. Und es ist die zentrale Handlungsanleitung der Alterswissenschaftler. Doch wenn der Unruhestand zum Imperativ wird, verlieren wir die Freiheit, einfach auf der Ofenbank zu sitzen und die Zeit vorbeiziehen zu lassen. Wir verlieren das Recht auf eine Existenz ohne Ziel und Zweck.
Die Politik will den Ruhestand abschaffen
Die „neuen Altersbilder“, die auch Gauck gefordert hat, müssen daher vor allem eines sein: vielfältig. Denn das ist noch so ein Alten-Klischee, das die Wissenschaft derzeit widerlegt. Ältere werden nicht gleicher, im Gegenteil. Jule Specht, eine Juniorprofessorin an der Freien Universität, konnte zeigen, dass auch über 70-Jährige noch einmal stark ihre Persönlichkeit verändern können. Das hohe Alter sei deutlich weniger homogen, als man bisher dachte. Das Bild vom braun-beige gekleideten, leicht verschrobenen Einheitssenior stimmt nicht. Zu diesem Schluss kam auch der sechste Altenbericht der Bundesregierung, der 2010 veröffentlich wurde. Der Individualität des Alterns würde die Politik bislang nicht gerecht, so die Wissenschaftler. „Einseitig ausgerichtete Altersbilder“ erschwerten „die gesellschaftliche und individuelle Nutzung von Potenzialen im Alter und eine selbstverantwortliche und mitverantwortliche Lebensführung älterer Menschen“, heißt es. Sie stünden einem angemessenen Umgang „mit der Verletzlichkeit des Alters“ entgegen.
Die gesellschaftliche und politische Antwort auf das Phänomen des alterslosen Alterns kann nur eine möglichst große Freiheit sein, die Förderung möglichst vieler unterschiedlicher Lebensmodelle: vom Heim über die Alters-WG bis zur Pflege in der Familie. Von der Frühverrentung bis zum Arbeiten bis zur letzten Minute.
Horst Morawietz lässt seine Gruppe einen Stapel Schwarz-Weiß-Bilder anschauen, die Ältere Menschen in Alltagssituationen zeigen. Eine ältere Besucherin wählt eine Großmutter beim Backen mit der Enkelin. Eine junge Frau sucht sich einen drahtigen Typen aus, der angeseilt eine steile Bergwand hinaufklettert. Ein Herr im Anzug in den 50ern wählt einen Mann, der im wuchernden Gras unter einem sommerlichen Obstbaum liegt, „weil er die Stadt verlassen hat und Zeitung liest, was auch meine Lieblingsbeschäftigung ist“. „Gut“, sagt Morawietz. „Aber kann das wirklich alles sein?“ „Zum Altern gehört ja auch fit bleiben und ein bisschen Bewegung“, beeilt sich die ältere Dame zu sagen. „Oooch“, sagt der Herr im Anzug, „kann für mich gern auch ein Dauerzustand sein.“
Anna Sauerbrey
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