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Menschliches Leben kann nicht gegen Arbeitslose aufgerechnet werden. Hier ein Corona-Patient in Frankreich.
© Frederick Florin/dpa

Coronakrise und Exit-Strategie: Jedes einzelne gerettete Leben ist die harten Einschränkungen wert

Das Unbehagen über strenge Anti-Corona-Maßnahmen kommt von Linken, Konservativen und Liberalen. Sie übersehen aber einen entscheidenden Punkt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Am Montag twitterte Katja Suding, Vize-FDP-Chefin: „Ich starte nachdenklich in die Woche: Was ist das Leben wert, wenn wir uns die Freiheit zu leben nehmen lassen?“ Einen Tag zuvor schrieb Armin Laschet, NRW-Ministerpräsident: „Der Satz, es sei zu früh, über eine Exit-Strategie nachzudenken, ist falsch.“ Es müsse eine „intensive Abwägung aller medizinischen, sozialen, psychologischen, ethischen, wirtschaftlichen und politischen Implikationen“ geben.

Der Verleger Jakob Augstein meint: „Im Moment ruht unser Schicksal in den Händen der Epidemiologen und in denen der Ordnungskräfte. Beiden Denksystemen ist eine totalitäre Logik eigen. Über kurz oder lang müssen Politiker wie Politiker handeln und sich aus dem Totalitarismus von Seuchenbekämpfung und Gehorsam lösen.“

Die Kollateralschäden sind beträchtlich

Suding, Laschet, Augstein – liberal, konservativ, links: Es dürfte nicht oft vorkommen, dass diese Drei in ihren Analysen  ähnlich klingen. Und um das Bild dieser absurd wirkenden Koalition zu komplettieren, ließe sich noch US-Präsident Donald Trump hinzufügen, der einst inständig davor warnte, dass die Folgen der Medizin nicht schlimmer sein dürften als die Krankheit selbst. Doch Trump ist wankelmütig. Diesen Satz hat er nicht wiederholt.

Auf den ersten Blick scheint die Forderung, auch die unbeabsichtigten Konsequenzen der drastischen Anti-Coronavirus-Maßnahmen in das Gesamtkostennutzenkalkül mit aufzunehmen, eine Binse zu sein. Schließlich sind die voraussehbaren Kollateralschäden beträchtlich. In Stichworten: massive Einschränkungen elementarer Freiheiten, Wirtschaft rutscht in die Rezession, Arbeitslosigkeit steigt.

Da werden Äpfel mit Schrauben verglichen

Das Problem daran ist: Tausendfach gerettetes Menschenleben lässt sich nicht gegen zehntausendfach verursachte Arbeitslosigkeit aufrechnen. Das sind grundverschiedene Kategorien. Da werden nicht Äpfel mit Birnen verglichen, sondern mit Schrauben. Eine Frage zu stellen der Art: „Ab wie vielen Arbeitslosen ist es gerechtfertigt, einen Menschen sterben zu lassen?“, verbietet sich. Der Wert eines Menschenlebens ist unendlich groß – und deshalb nicht addierbar.

Gelegentlich heißt es, mit zunehmender Arbeitslosigkeit steige die Zahl der Depressiven und Suizidgefährdeten. Allerdings stehen solche Korrelationsbehauptungen auf unsicherem Grund. Die Zahl der Depressiven in Deutschland nimmt seit 2003 kontinuierlich zu, obwohl die Zahl der Arbeitslosen im selben Zeitraum gesunken ist. Hingegen ist die Suizidrate seit zwanzig Jahren ziemlich konstant. Weder gab es gravierende Ausschläge in der Zeit der Massenarbeitslosigkeit zwischen 2000 und 2005 noch während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009.

Die Schuld wiegt schwer

Akut bedrohtes Leben muss gerettet werden. Das gebietet die Moral, selbst wenn die Rettung aufwändig ist und Ressourcen bindet.

Ein Beispiel: Mutter, Vater, drei Kinder. Das jüngste leidet an einer seltenen Krankheit, die tödlich verlaufen kann. Die Heilungschancen nach einer Operation sind gut. Doch die Operation ist teuer, nur einen  Bruchteil der Kosten übernimmt die Krankenkasse. Die Familie muss sich verschulden, in eine kleinere Wohnung ziehen, auf Urlaubsreisen verzichten. Aber die Entscheidung steht natürlich fest: Das Kind wird operiert. Nach einer Exit-Strategie fragt keiner aus der Familie.

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In einer vergleichbaren Situation befindet sich die Weltgemeinschaft durch die Corona-Pandemie. Kein Verantwortlicher will eines Tages in den Spiegel schauen und sich fragen müssen, ob es richtig war, dass er hat Menschen sterben lassen, um den Wohlstand zu retten. Die Schuld, die eine solche Entscheidung nach sich zieht, wiegt schwer. Unterlassene Hilfeleistung ist ein Straftatbestand.

Gerettetes Leben ist ein Wert an sich

Das Gebot wiederum, Hilfe zu leisten, gilt bedingungslos. In der Berufsordnung für die deutschen Ärzte steht die Genfer Deklaration, eine säkulare Version des Hippokratischen Eides. Darin heißt es: „Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“

Zweifellos richtet die Bekämpfung der Corona-Pandemie wirtschaftlichen Schaden an. Aber vieles spricht dafür, dass dieser Schaden noch größer wäre ohne die verhängten Maßnahmen. Denn gerettetes Leben ist einerseits ein Wert an sich, kann andererseits aber auch ökonomisch von Vorteil sein. Eine Studie über die Folgen der „Spanischen Grippe“ in den USA zeigt, dass sich die Wirtschaft in jenen Städten und  Regionen relativ schnell erholte, in denen die Pandemie früh und energisch bekämpft worden war.

Suding, Laschet, Augstein: Wer den eingeschlagenen Kurs vorzeitig verlassen möchte, um zu Freiheit und Wohlstand zurückzukehren, sollte bedenken, dass eine Rückkehr zu Freiheit und Wohlstand weitaus erfolgreicher möglich ist, wenn Menschen gerettet wurden statt sie sterben zu lassen.

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