„Freedom Day“ in England: Jeder zweite Brite hält die Aufhebung der Coronamaßnahmen für falsch
Englands Corona-Beschränkungen sind gefallen. Die Infektionen steigen. Viele Bürger sind deshalb vorsichtiger als ihr Premier.
Ein wenig Freude, viel unverändertes Verhalten und düstere Warnungen – die komplette Aufhebung sämtlicher Corona-Beschränkungen ist am Montag, dem „Freedom Day“, in England verhalten aufgenommen worden.
Beeinträchtigt war die Stimmung nicht zuletzt, weil die zuletzt sprunghaft angestiegenen Infektionen mit der besonders ansteckenden Delta-Variante von Sars-CoV-2 Millionen von Bürgern, darunter auch Premierminister Boris Johnson, zur häuslichen Quarantäne zwingen. „Seien Sie bitte, bitte, bitte vorsichtig“, mahnte der Regierungschef.
Fragte aber am Montag bei einer virtuellen Pressekonferenz: „Wann sollten wir es tun, wenn nicht jetzt?“ Im Herbst oder Winter werde die Situation noch schwieriger sein.
Zu Ende ging in der Nacht zum Montag im größten Landesteil die Maskenpflicht in Geschäften, Bussen und Bahnen sowie die Abstandsregeln. In Pubs dürfen sich die Menschen wieder an der Theke drängen, Theater und Kinos bis auf den letzten Platz besetzt werden.
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Auch die Aufforderung der Regierung, nach Möglichkeit von zu Hause zu arbeiten, gehört der Vergangenheit an. Hingegen halten die kleineren Landesteile Schottland, Wales und Nordirland bis auf Weiteres an Vorschriften fest, vor allem muss dort weiterhin der Mund-Nasen-Schutz getragen werden.
Ab dem Herbst will die Regierung verpflichtende Corona-Impfnachweise für Nachtclubs und andere Großveranstaltungen verlangen. „Manche der größten Vergnügen und Möglichkeiten des Lebens werden zunehmend von Impfungen abhängig sein“, sagte Premierminister Boris Johnson am Montag in London. Bis Ende September hätten alle Erwachsenen in Großbritannien die Möglichkeit, sich vollständig gegen Corona impfen zu lassen.
Bis dahin sind jedoch für Clubs und andere Großveranstaltungen, die seit Montag wieder öffnen beziehungsweise stattfinden dürfen, keine solchen Nachweise erforderlich. Nachtclubs werden lediglich dazu ermutigt, den sogenannten NHS Covid Pass beim Eintritt zu verlangen. Bislang haben der britischen Regierung zufolge rund 35 Prozent der 18- bis 30-Jährigen noch keine erste Impfung erhalten, obwohl sie bereits ein Angebot bekommen haben.
55 Prozent halten die Öffnungspolitik für falsch
In der Realität hat sich zunächst wenig verändert. Der Sommer hat schon in den vergangenen Tagen die Menschen zu Hunderttausenden in Parks und an die Strände gelockt, wo von den bisher geltenden Abstandsregeln keine Rede mehr sein konnte.
Cafés, Pubs und Restaurants haben sich in den vergangenen Monaten vielerorts ins Freie verlagert. Immerhin öffneten um Mitternacht die seit März vergangenen Jahres verwaisten Nachtclubs erstmals wieder ihre Türen.
Einer Umfrage des Unternehmens YouGov Ende aus der vergangenen Woche deutete darauf hin, dass sich der Populist Johnson diesmal von der Volksmeinung entfernt hat. Demnach halten 55 Prozent der Briten die englische Öffnungspolitik für falsch, lediglich 31 Prozent freuen sich, der Rest gibt sich unentschieden.
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Bei der Sonntagsfrage haben dennoch die regierenden Konservativen (44) klar die Nase vorn gegenüber der Labour-Opposition (31). Deren Vorsitzender Keir Starmer verdammte Johnsons Vorgehen als unbesonnen: „Der Premierminister packt die Nation ins Auto, tritt aufs Gas und nimmt den Gurt ab.“
Im Unterhaus saßen maskenlose Torys dicht an dich, während auf den Oppositionsbänken die Abgeordneten weiterhin Mund-Nasen-Schutz trugen und Abstand hielten.
Im öffentlichen Raum gilt nun ein verwirrendes Flickwerk von Regeln, weil kommunal Verantwortliche deutlich vorsichtiger agieren als die Zentralregierung. So gibt es in London Bahnhöfe, wo am gleichen Bahnsteig Züge unterschiedlicher Betreiber halten.
Wer beispielsweise in Farringdon in die U-Bahnlinie Circle Line einsteigt, ist laut Erlass des Bürgermeisters Sadiq Khan zum Maskentragen verpflichtet. Die Fahrt mit Thameslink nach Brighton darf hingegen maskenfrei absolviert werden. Ohnehin begnügen sich viele Briten noch immer mit den selbstgeschneiderten Stoffmasken; die in Deutschland meist vorgeschriebenen FFP-2-Masken sieht man in der Öffentlichkeit höchst selten.
39 Prozent mehr Klinikeinweisungen
Vergangene Woche stieg bis Sonntag die Zahl der täglich gemeldeten positiven Covid-Tests landesweit um 43 Prozent, lag zuletzt bei 48 161 Neuinfektionen und damit bei einer Inzidenz von 376 pro 100 000 Einwohner. 39 Prozent mehr Patienten mussten wegen einer Covid-Erkrankung ins Krankenhaus gebracht werden, täglich kommt es zu 600 Neueinweisungen.
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Damit ist das Nationale Gesundheitssystem NHS zwar weit entfernt von den mehr als 4000 neuen Covid-Patienten täglich im Februar, der Druck nehme aber „ständig zu“, berichtet Alison Piccard vom Fachverband britischer Intensivmediziner. „Wir fühlen uns mitten im Juli wie in einem schwierigen Winter.“ Die Zahl der Toten lag ebenfalls um 39 Prozent höher als in der Vorwoche – mit im Schnitt 40 Verstorbenen pro Tag.
Nationale und internationale Wissenschaftler warnen deshalb seit Wochen vor der gänzlichen Aufhebung der Einschränkungen. Er kenne „keinen verantwortungsvollen Gesundheitsexperten“, sagt der frühere australische Staatssekretär Stephen Duckett, „der eine Öffnung befürwortet zu einer Zeit, da sich das Virus rasch verbreitet“.
Vernünftig sei vielmehr „eine schrittweise und vorsichtige Lockerung“, pflichtet ihm Jeremy Farrar bei, der den Milliarden-schweren Wellcome Trust leitet. Professor Neil Ferguson, ein Mitglied des wissenschaftlichen Beratergremiums der Regierung, hält binnen weniger Wochen bis zu 200 000 Neuinfektionen täglich für möglich.
Sogar der höchste Gesundheitsbeamte Englands, Professor Christopher Whitty, warnte vergangene Woche davor, es könnten schon in fünf Wochen neue Einschränkungen notwendig werden. Derzeit hofft die Regierung auf einen positiven Effekt durch die Sommerferien, die für die meisten Staatsschulen diese Woche beginnen.
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