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Ein Demonstrant protestiert in London vor dem Unterhaus gegen den Brexit.
© Daniel Leal-Olivas/AFP

Exit vom Brexit: "Je früher das Austrittsverfahren gestoppt würde, umso besser"

Der Europarechtler Daniel Thym hält einen Exit vom Brexit für möglich. Voraussetzung wäre ein zweites Referendum oder eine Parlamentswahl. Ein Interview.

Herr Thym, laut Meinungsumfragen ist inzwischen eine Mehrheit der Briten gegen den Brexit. Wie bewerten Sie das?

Das überrascht kaum, weil die Mehrheit für den Brexit bereits beim Referendum im Juni 2016 sehr knapp gewesen ist und die Brexiteers seinerzeit mit falschen Argumenten hantiert haben. Inzwischen erkennt eine Mehrheit im Vereinigten Königreich, dass der Austritt aus der EU mehr Nachteile mit sich bringt, als man anfangs gedacht hatte. Der Vorgang zeigt, dass Referenden für derart hochkomplexe Themen ungeeignet sind. Dafür ist die parlamentarische Demokratie das bessere Instrument.

Lässt sich der Brexit noch rückgängig machen?

Aber sicher. Dafür müssten die Briten ihre Meinung nachhaltig ändern. Aus politischer Sicht wäre ein neues Referendum wohl zwingend. Denkbar wäre aber auch eine Parlamentswahl, bei der ein Spitzenkandidat oder eine Spitzenkandidatin einer Partei mit der klaren Ansage antritt, im Falle eines Wahlsieges den Austrittsantrag aus der EU zurückzunehmen.

Der Europarechtler Thym hält eine Zustimmung der übrigen 27 EU-Staaten zu einem Exit vom Brexit nicht für unbedingt erforderlich.
Der Europarechtler Thym hält eine Zustimmung der übrigen 27 EU-Staaten zu einem Exit vom Brexit nicht für unbedingt erforderlich.
© Universität Konstanz

Wie würde dies in der Praxis funktionieren?

Die britische Regierungschefin May hat im März 2017 den Austrittswunsch nach Artikel 50 des EU-Vertrages in einem Brief nach Brüssel artikuliert. Auch ein Stopp des Verfahrens müsste durch einen Brief eingeleitet werden.

Bis wann wäre ein solcher Schritt vor dem geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU im März des kommenden Jahres machbar?

Je früher dies geschehen würde, umso besser wäre es. Juristisch funktioniert ein Exit vom Brexit in letzter Minute wohl nur mit Zustimmung aller übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten.

Wäre die Zustimmung der restlichen Mitgliedstaaten immer zwingend?

Die Juristen sind da geteilter Meinung, weil die europäischen Verträge in dieser Frage schweigen. Wenn sich die Mehrheitsmeinung in Großbritannien dauerhaft ändert – wie gesagt nach einem Regierungswechsel oder einem zweiten Referendum –, dann gibt es aus meiner Sicht gute Gründe, auf die Zustimmung der übrigen 27 Staaten zu verzichten. Die Voraussetzung wäre aber, dass der Exit vom Brexit nicht in allerletzter Minute passiert, wenn der Austrittsvertrag schon unterzeichnet ist.

Falls eine Zustimmung der restlichen 27 Staaten doch gefordert wäre, würde dann jeweils ein Regierungsbeschluss ausreichen oder müssten die Parlamente zustimmen?

Das ist eine Frage des jeweiligen nationalen Verfassungsrechts. In Deutschland würde vermutlich ein Regierungsbeschluss ausreichen, für den der Bundestag natürlich eine Empfehlung abgeben kann.

Über welchen Zeitraum wäre die britische Politik an einen Widerruf der Brexit-Entscheidung gebunden?

Das lässt sich nicht genau eingrenzen. Klar ist nur, dass man den Widerruf nicht als Verfahrenstrick benutzen kann. Die Briten dürfen also den Widerruf nicht missbrauchen, um zwei Jahre später erneut einen Brexit zu versuchen.

Zu welchen Bedingungen könnte das Vereinigte Königreich in der EU bleiben? Würde das Reformpaket noch gelten, das der damalige Regierungschef David Cameron Anfang 2016 ausgehandelt hatte? Damals hatten die übrigen EU-Länder Cameron eine Klausel zugestanden, der zufolge EU-Ausländer in bestimmten Fällen von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können.

Diese Regelung würde beim Exit vom Brexit rechtlich nicht mehr gelten. Wenn die EU-Organe diese Privilegien für die Briten freiwillig wieder aufleben ließen, dann wäre aber nichts dagegen einzuwenden. Aber grundsätzlich gilt: Wenn die Briten in der EU bleiben, dann zu den Bedingungen vor dem Referendum. Sie können also nicht das Austrittsverfahren nutzen, um weitere Privilegien auszuhandeln. Ein solches Vorgehen würde schließlich auch andere Mitgliedstaaten dazu ermuntern, über ein Schein-Austrittsverfahren ihren Status zu verbessern.

Würden die übrigen Mitgliedstaaten die Briten im Fall einer neuen Entscheidung gegen den Brexit wieder mit offenen Armen aufnehmen?

Ich denke nicht, dass die übrigen Länder die Briten aus der Union hinaustreiben wollen. Aus der Sicht der osteuropäischen Staaten wäre es beispielsweise sinnvoll, dass ihre Bürger auch weiterhin unter den gewohnten Bedingungen in Großbritannien arbeiten können. Hinzu kommen finanzielle Erwägungen: Das Vereinigte Königreich ist trotz des Briten-Rabatts ein Netto-Beitragszahler. Wenn die Briten in der Gemeinschaft blieben, würde sich auch die Finanzsituation für die EU entspannen. Das wäre ein wichtiger Punkt für die Osteuropäer, die derzeit im Wesentlichen zu den Empfängern von Transferleistungen zählen. Auch Frankreichs Präsident Macron hat mit der britischen EU-Mitgliedschaft, anders als der frühere Staatschef de Gaulle, keine Probleme. Und Deutschland hat Großbritannien sowieso immer als wichtiges Partnerland gesehen.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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