Gespräche in Berlin: Jamaika-Verhandler einigen sich offenbar bei Finanzen
Neuer Tag, neuer Endspurt: Union, FDP und Grüne wollen am heutigen Sonntag ihre Sondierungsgespräche abschließen. Doch die Hindernisse für eine Koalition scheinen weiter groß zu sein.
Unter hohem Zeit- und Einigungsdruck setzen CDU, CSU, FDP und Grünen an diesem Sonntag ihre Sondierungen zur Bildung einer Jamaika-Koalition fort. Diese sollen bis zum Abend abgeschlossen werden. Allerdings gibt es nach wie vor Streit in zentralen Fragen wie Migration, Klimaschutz und Energie. Nach dem Ende der Beratungen am Samstag hieß es in Teilnehmerkreisen, wenn das Thema Migration gelöst werden könne, käme man auch bei Klimaschutz und Energie zusammen. Der Klimaschutz und der Umgang mit Kohlekraftwerken sind für die Grünen besonders wichtig, die Begrenzung der Zuwanderung für die CSU. Auch beim Streitthema Verkehr sind zentrale Fragen wie die Zukunft von Verbrennungsmotoren weiter strittig.
Am Sonntagvormittag setzten die vier Parteien ihre Verhandlungen in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin fort. "Es ist an der Zeit, dass wir Entscheidungen treffen", sagte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. „Ich gehe davon aus, dass sie heute fallen.“ Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sagte bei der Ankunft: „Es gibt keinen Kompromissvorschlag, es gibt mindestens fünf.“
"Wir müssen heute entscheiden", sagte CSU-Chef Horst Seehofer. Er denke, dass es "der letzte Tag dieser Sondierungsgespräche" sei. Auch Unionsfraktionschef Volker Kauder mahnte, die Zeit sei "reif für Entscheidungen". Grünen-Verhandlungsführerin Katrin Göring-Eckhardt hingegen hob hervor: "Wir verhandeln so lange, wie es nötig ist." Ein so "schwieriges Projekt" lasse sich "bestimmt nicht nach Stechuhr machen". Zuvor war vor allem von FDP-Politikern ein Ende der Verhandlungen für 18 Uhr ins Gespräch gebracht worden. Inzwischen wird eher erwartet, dass sich die Verhandlungen bis in den Abend oder auch bis tief in die Nacht hinziehen.
Am Mittag knirschte es offenbar bei der Finanzpolitik. Die Parteien berieten getrennt, sagt ein Verhandlungsteilnehmer. Grünen-Unterhändler Jürgen Trittin habe Forderungen zur mittelfristigen Finanzplanung eingebracht, die eigentlich schon abgeräumt gewesen seien. "Es hakt an der grundsätzlichen Vertrauensbasis und der Frage der Finanzen." Aufgrund der festgefahrenen Gespräche kamen am frühen Nachmittag erneut die Chefunterhändler um Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen, um zu beraten.
Wenig später hieß es aus Verhandlungskreisen der Grünen, dass sich die Unterhändler beim Thema Finanzen "so gut wie geeinigt" hätten: "Die Einigung wird gerade niedergeschrieben.“
Grüne sehen Schmerzgrenze erreicht
Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur und des ARD-Hauptstadtstudios machten die Grünen der CSU beim Thema Zuwanderung ein Kompromissangebot gemacht. Demnach soll die Zahl von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr als flexibler Rahmen gelten. Die Grünen betonen, dass diese Zahl seit der Wiedervereinigung nur in fünf Jahren überschritten worden sei. „Deswegen wollen wir in diesem Rahmen auch in Zukunft handeln, gerade mit Blick auf die Integrationsmöglichkeit in den Kommunen.“
Dieses Angebot gelte aber nur, wenn sich auch die CSU bewege. Der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus dürfe nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, wie dies bislang vor allem die CSU fordert. Die Grünen machen aber auch klar, dass am Grundrecht auf Asyl nicht gerüttelt werden dürfe. Das Grundgesetz kenne keine Obergrenze. „Wir werden es weder infrage stellen noch aushöhlen“, heißt es in dem Vorschlag. Für die CSU dürfte das kein Problem darstellen, da auch sie am Grundrecht an Asyl festhalten will. Grünen-Unterhändler Jürgen Trittin bekräftigte in der „Bild am Sonntag“, beim Thema Migration sei für seine Partei die Schmerzgrenze erreicht. Nicht verhandelbar sei der Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge.
CSU-Chef Seehofer wollte sich nicht zu dem Grünen-Angebot äußern. "Wir verhandeln darüber nicht öffentlich", sagte er. Bei konkreter Betrachtung sähe manches oft "erheblich anders aus", vor allem bei den Grünen, fügte er hinzu. Der bayerische Ministerpräsident nannte als zentrale Punkte für seine Partei eine Zuwanderung mit "Humanität und Ordnung", aber auch eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen, einen schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlags, eine kleine Einkommenssteuerreform und eine Förderung von Familien und Kindern.
Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) forderte seine Partei auf, einen uneingeschränkten Familiennachzug für Flüchtlinge zu ermöglichen. Ehe und Familie seien auf Dauer angelegt, Ehemann und -frau gehörten zusammen und Kinder zu ihren Eltern. Das gelte immer und überall, unabhängig von Staatsangehörigkeit, Religion und Zahl der Betroffenen, schrieb er in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Blüm warnte: „Wenn der Familiennachzug für Flüchtlinge, egal wie klein oder groß deren Zahl ist, an der CDU scheitert, wird das eine Wunde in die Seele der Partei reißen, die lange eitert. Das Gesicht der CDU würde verschandelt.“
Die große Koalition hatte den Familiennachzug für Menschen mit eingeschränktem Schutzstatus für zwei Jahre bis März 2018 ausgesetzt. Die Grünen verlangen, dass er anschließend wieder zugelassen wird. Die CDU und vor allem die CSU lehnen dies ab. Verständigung gab es am Samstag nach Darstellung der Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt im Grundsatz bei Agrar und Wirtschaft.
Steinmeier warnt vor "panischen Neuwahldebatten"
Beim Ringen um das Einhalten der Klimaziele spitzt sich die Debatte auf die Frage zu, ob die Kohleverstromung in einer Größenordnung von höchstens fünf oder sieben Gigawatt reduziert wird. Die Grünen hatten eine Reduzierung um acht bis zehn Gigawatt gefordert. Union und FDP wollten ursprünglich nur drei bis maximal fünf Gigawatt zugestehen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bot dann sieben Gigawatt an. Die FDP schlug nach dpa-Informationen vor, fünf Gigawatt bis 2020 abzuschalten und die Reduzierung weiterer zwei Gigawatt im Regierungshandeln offen zu prüfen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief alle Seiten auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Es bestehe kein Anlass für „panische Neuwahldebatten“. Der „Welt am Sonntag“ sagte Steinmeier: „Wenn jetzt von den Jamaika-Verhandlern hart um große Fragen wie Migration und Klimaschutz gerungen wird, muss das kein Nachteil für die Demokratie sein.“ Über die Debatte zum Umgang mit Flüchtlingen und Zuwanderern sagte er: „Wir werden diese Phase nicht überwinden, solange die Migrationsdebatte moralisches Kampfgebiet bleibt.“ Die Politik müsse jetzt Vorschläge für eine kontrollierte und gesteuerte Zuwanderung entwickeln.
Falls die Jamaika-Sondierungen scheitern sollten, wünschen sich 49 Prozent der Bundesbürger einer Umfrage zufolge die Bildung einer großen Koalition von Union und SPD, 47 Prozent sind dagegen. Das geht aus einer Emnid-Umfrage für „Bild am Sonntag“ hervor. 47 Prozent sind angesichts der stockenden Jamaika-Verhandlungen für sofortige Neuwahlen, 50 Prozent sind dagegen. (mes, dpa, Reuters)