Öffentlicher Nahverkehr: Jahresticket 365 Euro: Deutsche Städte mögen Wiener Modell
In Wien haben mehr Menschen ein Jahresticket für den Öffentlichen Nahverkehr als ein Auto. Bonn und Reutlingen wollen sich an der Verkehrspolitik der Stadt orientieren.
Ein Euro. Dafür bekommt man nicht viel. Einen Liter Milch oder vielleicht einen Pfeffi in der alten Eckkneipe. Ein Milchkaffee wird nicht drin sein. Doch in Wien bekommt man täglich eine ganze Stadt für einen Euro. Die Jahreskarte der Wiener Linien kostet nämlich 365 Euro. Eingeführt hat die rot-grüne Stadtregierung das vergünstigte Ticket im Mai 2012. Nun wollen auch deutsche Städte das Modell übernehmen.
Die Bürgermeister der fünf Modellstädte Bonn, Essen, Herrenberg, Mannheim und Reutlingen wollten nach Informationen der Zeitung „Handelsblatt“ am Freitag mit dem Bundesumweltministerium über den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zur Verbesserung der Luft in den Städten beraten.
Essen plant dabei, sein 30-Tage-Ticket für die Hälfte anzubieten und Mannheim will seine Preise um bis zu ein Drittel senken. Herrenberg plant dem „Handelsblatt“ zufolge, sein „City-Monatsticket“ 50 Prozent günstiger anzubieten, „um Verkehr aus den Stadtteilen und den benachbarten Kommunen auf den ÖPNV zu lenken“. Und Bonn und Reutlingen sehen die österreichische Hauptstadt als gutes Vorbild für ihre Verkehrspolitik.
Früher kostete das Jahresticket in Wien noch 449 Euro, was schon vergleichsweise günstig ist. In Berlin zahlt man für alle drei Tarifbereiche 961 Euro, das günstigste Jahresticket, für die Bereiche A und B, kostet 728 Euro. Und normalerweise steigen Preise mit den Jahren, günstiger wird es eigentlich nicht. In Wien scheint sich das Billig-Modell aber bewährt zu haben. Mit der Preissenkung schoss die Zahl der „Öffi“-Fahrer in die Höhe. Im ersten Jahr gab es ein Plus von 140.000 neuen Jahreskartenbesitzern. Von 2012 bis heute ist ihre Zahl von 373.000 auf 780.000 gestiegen.
Inzwischen haben in Wien mehr Menschen ein 365-Euro-Ticket, als ein Auto, sagt ein Sprecher der Wiener Linien. Billige Tickets alleine hätten aber nicht zum Erfolg geführt. „Es ist ja schön, wenn meine Fahrkarte günstig ist, aber wenn der Bus nur alle 20 Minuten kommt, bringt das auch nichts“, sagt der Sprecher. Also habe Wien investiert. U-Bahnen wurden verlängert, Takte verkürzt. Im Herbst wird mit dem Bau der neuen Linie U5 begonnen.
2,6 Millionen Fahrgäste werden jeden Tag mit dem Bus, der U-Bahn oder der, von den Österreichern liebevoll „Bim“ genannten Straßenbahn befördert. 400 Millionen Euro investiert die Stadt jährlich in das Netz.
Schwarzfahren deutlich teurer in Wien
Mit diesen Zahlen steht Wien gut da, auch im Vergleich zum deutlich größeren Berlin. Die BVG hat 2017 rund 380 Millionen Euro investiert – auf die Wiener Zahl reagiert ein Sprecher des Unternehmens überrascht und erklärt: „Das liegt natürlich auch daran, dass in Wien unglaublich viel neu gebaut wird.“ Bei der BVG-Zahl seien diese Kosten, wie etwa für den Ausbau der U5, nicht inkludiert.
Obwohl Berlin doppelt so viele Einwohner hat, gibt der BVG zufolge nur 484.000 Jahreskartenabos – fast 300.000 weniger als in Wien. 40 Prozent aller Wege, die die Wiener zurücklegen, entfallen auf die Öffentlichen Verkehrsmittel. In Berlin sind es 27 Prozent, in München 23 und in Hamburg sogar nur 18 Prozent.
Auch der Anreiz ein Ticket zu kaufen, sei es nur für eine Fahrt, ist in Wien höher als in Berlin. Schwarz zu fahren, sei „die teuerste Variante, mit den Wiener Linien unterwegs zu sein“ heißt es auf deren Homepage. Während der Kontrolleur in Berlin 60 Euro verlangt, sind es in Wien 105 Euro, wer nicht gleich Zahlen kann, muss 115 Euro hinlegen.
Der Preis von Tickets oder die Höhe der Geldbußen wäre egal, wenn der Öffentliche Nahverkehr gratis zu benutzen wäre. Im Februar hatte die Bundesregierung bei der EU diese Idee als mögliche Maßnahme zur Verbesserung der Luft in den Städten ins Spiel gebracht und damit für Diskussionen gesorgt. Kostenlos S-Bahn-fahren ist nun doch wohl wieder vom Tisch. Aber wenn schon nicht umsonst, wird es vielleicht bald billiger.
Zumindest für die Fahrgäste.
Denn das hochverschuldete Wien lässt sich das 365-Euro-Ticket einiges kosten. Im ersten Jahr nach der Einführung stieg der Zuschuss, den das Unternehmen bekommt, um 51 Millionen Euro an. Der Großteil des Geldes floss in den durch die erhöhten Fahrgastzahlen notwendigen Ausbau des Netzes.