Frankreich trauert: Jacques Chirac und der Tod einer Welt
Zu Amtszeiten unbeliebt, entdecken die Franzosen ihre Zuneigung zu einem Präsidenten mit Überzeugungen, der Sauerkraut und die Kunst liebte. Eine Kolumne.
Natürlich neigt man dazu, Tote im wahrsten Sinne in den Himmel zu loben. Doch die Nachrufe zu Jacques Chiracs Tod in Frankreich überschlagen sich regelrecht vor Begeisterung. Schon Donnerstag standen Franzosen im erleuchteten Hof des Elysee-Palastes Schlange, um sich ins Kondolenzbuch einzutragen, die Beleuchtung des Eifelturms wurde ausgeschaltet. Der kommende Montag wurde zum nationalen Trauertag erklärt.
Warum sind die Franzosen so gerührt vom Tode Chiracs, wo sie ihn doch nicht wirklich mochten, solange er an der Macht war? Er hat nie mehr als 20 Prozent im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen erhalten.
Sogar ich, die ich ihm 2002 wie viele andere Franzosen in der Stichwahl nur meine Stimme gab, um Jean-Marie Le Pen zu verhindern, bin nun von einer fast zärtlichen Nostalgie ergriffen. Angesichts all der egozentrischen Kasper à la Trump-Johnson-Berlusconi-Bolsonaro oder – bestenfalls – kleinen Karrieristen, die ihr Fähnchen im Wind der Umfragen drehen, verschwindet mit Jacques Chirac auch eine Welt.
Man muss nicht seinem politischen Lager angehören, um anzuerkennen, dass Chirac für Überzeugungen und Visionen stand. Er räumte 1995 – spät genug! – als erster Präsident die Mitverantwortung des französischen Staates für die Deportation der Juden unter der Vichy-Regierung ein. Er weigerte sich, 2002 Truppen in den Irak zu schicken.
Chirac weigerte sich mit dem Front National zusammenzuarbeiten - ein Vorbild für den rechten Flügel der CDU!
Und dann dieser visionäre Satz im selben Jahr in Johannesburg, der zwar ohne Konsequenzen blieb, aber doch aus ihm den Urgroßvater von Greta Thunberg macht: „Unser Haus brennt, und wir schauen weg.“ Er weigerte sich konsequent, mit dem Front National zusammenzuarbeiten. Das könnte sich der rechte Flügel der CDU mal zum Vorbild nehmen!
Er hatte, auch wenn er konservativ war, eine gewisse Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Er besaß eine fundierte Kenntnis der Welt und liebte Kunst aus Asien, Afrika und Ozeanien, eine Liebe, aus der das Musée du Quai Branly hervorgegangen ist.
Kennen Sie heute viele Politiker, die japanische Gedichte lesen? Hinzu kommen Herzlichkeit und Bescheidenheit: immer eine Kippe im Mund, mit einer Vorliebe für deftige Gerichte wie Kalbskopf oder Sauerkraut, begeisterter Besucher von Landwirtschaftsmessen – „das ist doch kein Rind, das ist ein Kunstwerk!“
Ein schlauer Fuchs, eine Frohnatur, ein sinnlicher Mann
Kurzum: ein schlauer Fuchs, eine Frohnatur, ein sinnlicher Mann, der die Frauen liebte, aber so wenig Zeit für erotische Eskapaden hatte, dass man ihm den Spitznamen „5-Minuten-inklusive-Duschen“ verlieh. Ein echter Macho, der Angela Merkel mit einem Handkuss für sich einzunehmen wusste und Margaret Thatcher zum Erröten brachte.
1988, während eines besonders angespannten europäischen Gipfeltreffens lange vor dem Brexit, explodierte er: „Was will diese Hausfrau eigentlich? Meine Eier auf einem Tablett serviert?“ Dummerweise war das Mikro noch an. Ganz das Gegenteil der verklemmten Technokraten, die erst einmal gecoacht werden müssen, bevor sie nur in der Lage sind, in einer Menschenmenge Hände zu schütteln.
Die Franzosen haben ihre Liebe zu Chirac erst entdeckt, nachdem er den Elysee-Palast verlassen hatte. Heute haben sie sogar seine Fehler und Verwicklungen mit der Justiz vergessen. „Wir lieben ihn so sehr, wie er uns liebte“, sagt Macron. Ein merkwürdiger Satz aus dem Mund eines jungen Präsidenten, den die Franzosen so wenig lieben. Aus dem Französischen übersetzt von Odile Kennel.