Jacques Chirac ist tot: Der Gaullist, der Frankreichs Spaltung überwinden wollte
Jacques Chirac war zwölf Jahre lang Frankreichs Staatschef. Am Donnerstag starb er im Alter von 86 Jahren. Ein Nachruf.
Als Jacques Chirac im Mai 1995 das Amt des französischen Staatspräsidenten übernahm, herrschte im Nachbarland noch eine andere Stimmung als heute. Die Debatten waren weniger angsterfüllt als die heutigen Diskussionen über den dschihadistischen Terror und die Einwanderung.
Dabei war das Frankreich des Jahres 1995 gar nicht so viel anders als heute: Islamistische Anschläge erschütterten Paris, im Kampf gegen Drogendealer wurden kurzzeitig wieder Grenzkontrollen zwischen Frankreich und Belgien eingeführt, und im Herbst gingen die Franzosen gegen eine geplante Rentenreform auf die Straße.
Unter Chiracs sozialistischem Amtsvorgänger François Mitterrand war das „goldene“ Nachkriegs-Zeitalter zu Ende gegangen. Der Gaullist Chirac hatte den Franzosen im Präsidentschaftswahlkampf 1995 angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit versprochen, die „soziale Spaltung“ zu beenden, von der bis heute vor allem Jugendliche in den Banlieues betroffen sind. Sein Versprechen konnte Chirac nicht einlösen: 2005 kam es zu einer Welle von Vorstadtunruhen.
Die wochenlangen Krawalle fielen bereits in die zweite Amtszeit Chiracs. Die verdankte er einem phänomenalen Stimmenanteil von 82 Prozent bei der Wahl von 2002. Das überragende Ergebnis ging aber nicht auf seine Popularität zurück, sondern hatte mit seinem Gegenkandidaten zu tun: Jean-Marie Le Pen, der Gründer des rechtsextremen Front National (FN). Selbst die Anhänger der Linken rangen sich seinerzeit zur Stimmabgabe für den Gaullisten durch, um Le Pen als Staatschef zu verhindern.
Mit Schröder gegen die "willigen" Irak-Feldzügler
Während seiner zwölfjährigen Amtszeit als Präsident hat Chirac nicht so sehr in der französischen Heimat Akzente gesetzt, sondern eher auf internationaler Bühne. In Deutschland zog er unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1995 heftige Kritik auf sich, als er die Atomtests auf Mururoa wieder aufnahm. Später, in seiner zweiten Amtszeit, versöhnte er die Deutschen wieder, als er sich 2003 an der Seite des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) der Koalition der „willigen“ Irak-Feldzügler verweigerte.
Das politische Bündnis zwischen dem Sozialdemokraten Schröder und dem Konservativen Chirac überdeckt allerdings, dass während der Amtszeit des Präsidenten eine deutsch-französische Entfremdung begann. Während die kommende EU-Osterweiterung – eine logische Folge des Mauerfalls – in Deutschland vor allem als Chance begriffen wurde, fremdelten viele Franzosen – auch Chirac – mit den neuen Nachbarn. Die Arroganz, mit der Chirac die Osteuropäer behandelte, zeigte sich 2003 auf dem Höhepunkt der innereuropäischen Auseinandersetzung um den Irak-Krieg. Die Unterstützung von Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien für einen Kriegseinsatz quittierte Chirac mit der Bemerkung, die Osteuropäer hätten eine „Gelegenheit, den Mund zu halten, verpasst“.
In Deutschland sah sich Schröder – wenn auch nicht in der Frage des Irakkriegs – durchaus als Anwalt der Osteuropäer. Französische Diplomaten waren geschockt, als sie beim EU-Gipfel Ende 2000 in Nizza miterleben mussten, dass sich Deutschland im Alleingang dafür einsetzte, den künftigen EU-Partnern im Osten ein möglichst großes Stimmengewicht zu verschaffen.
"Ich esse Sauerkraut und trinke Bier"
Die EU-Osterweiterung kam dann 2004, und viele Franzosen sahen darin eher die negative Seite eines neuen Wettbewerbs auf dem Dienstleistungssektor. Der „polnische Klempner“ wurde vor der Abstimmung über die EU-Verfassung im Jahr 2005 in Frankreich zum Sinnbild für die Angst, dass Arbeitnehmer aus Osteuropa den Franzosen die Jobs wegnehmen könnten. Obwohl sich Chirac für die EU-Verfassung einsetzte, sagten seine Landsleute beim Referendum mehrheitlich „Non“. Das Ergebnis war gleichzeitig auch ein Misstrauensvotum für Chirac, der zu diesem Zeitpunkt inzwischen zehn Jahre im Amt war. Viele Menschen im Nachbarland waren damals ihres Staatschefs überdrüssig geworden.
Chirac beantwortete die Niederlage beim Referendum so, wie das Präsidenten in Frankreich oft zu tun pflegen – mit einer Regierungsumbildung. Er machte Dominique de Villepin, der als Außenminister zwei Jahre zuvor vor dem UN-Sicherheitsrat eine flammende Rede gegen den Irak-Einsatz gehalten hatte, zum Premierminister. Zu den Weggefährten Chiracs, die sich damals übergangen fühlten, gehörte François Fillon. Der spätere Regierungschef machte seinem Unmut über Chiracs mangelnden innenpolitischen Reformwillen anschließend Luft und erklärte, der Staatschef habe es versäumt, ähnlich wie Schröder in Deutschland eine „Agenda 2010“ ins Werk zu setzen.
Tatsächlich galt Chirac weniger als Reformer, sondern als erdverbundener Politiker, der seiner im Herzen Frankreichs gelegenen Heimatregion Corrèze stets die Treue hielt. Dabei pflegte der hoch gewachsene Politiker einen Stil, der sich weder eindeutig links noch rechts war. „Natürlich bin ich links, ich esse Sauerkraut und trinke Bier“, erklärte er während seiner Präsidentschaftskampagne 1995. Von seinem Nachfolger Nicolas Sarkozy, der 2007 das Amt im Elysée-Palast von ihm übernahm, hielt er nicht viel. Eine Wahlempfehlung für Sarkozy wollte er nicht abgeben.
Veruntreuung öffentlicher Gelder
So sehr er am Ende seiner Amtszeit an Popularität eingebüßt hatte, so sehr nahm sein Nimbus anschließend als Ex-Staatschef zu. Daran änderte auch seine Verurteilung zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung 2011 nichts; im ersten Strafverfahren gegen ein ehemaliges französisches Staatsoberhaupt seit dem Zweiten Weltkrieg wurde Chirac damals wegen des Vertrauensbruchs und der Veruntreuung öffentlicher Gelder schuldig gesprochen. Der Grund: In seiner Zeit als Pariser Bürgermeister hatte er Mitarbeiter aus der Stadtkasse bezahlt, obwohl sie gar nicht in der Stadtverwaltung aktiv waren.
Zuletzt trat er nur noch selten öffentlich in Erscheinung. Seit seinem Abschied aus dem Elysée-Palast musste sich Chirac, der 2005 einen Schlaganfall erlitten hatte, mehrmals ins Krankenhaus begeben. Obwohl er längst vom Alter gezeichnet war, äußerte er sich gelegentlich aber doch zur Tagespolitik.
Im Oktober 2014 begrüßte er die Ankündigung seines einstigen Premierministers Alain Juppé, bei der Präsidentschaftswahl 2017 anzutreten. „Wenn ich die Energie hätte, hätte ich mir einen Platz, selbst einen ganz kleinen, in seiner Wahlkampfzentrale reserviert“, sagte er damals. Am Donnerstag ist Chirac im Alter von 86 Jahren gestorben.