Holocaust-Gedenktag: Israel will nicht gefangen sein im Trauma
Wieder ist ein Yom Haschoah, ein Gedenktag für die Toten des Holocaust. Israels Jugend denkt an die eigene Vergangenheit - und will für die Zukunft vor allem eins: In Frieden leben.
Isaac Creveld. Nur ein Name? Ein Leben. 1942 musste er von Utrecht nach Amsterdam ins Ghetto. 1943 waren neun seiner elf Kinder tot. Er auch. Viel zu jung.
4,5 Millionen Namen schauen den an, der in Yad Vashem Gründe für diesen in der Geschichte beispiellosen Versuch der Menschenvernichtung sucht. So viele der sechs Millionen Toten im Holocaust haben bereits einen Namen, haben ihre menschliche Würde zurück, die ihnen genommen war, weil sie nur noch als Nummern geführt wurden. Nummern derer, die gleichsam industriell ausgelöscht wurden. Und es werden noch mehr Namen werden.
Ja, die Schoah hat ein Ende - und doch keines. Denn wieder ist ein Yom Haschoah, ein Gedenktag an die Märtyrer und Helden des Holocaust, an die Opfer aller israelischen Kriege - und schließlich an den Unabhängigkeitstag des Staates Israel.
Der Präsident spricht am Vorabend, der Premier, die gesamte Staatsspitze ist anwesend. Sechs von vielleicht noch 160.000 Holocaust-Überlebenden entzünden Kerzen, ihre Lebensgeschichten werden erzählt, jede ein Triumph über Hitler-Deutschland und seine Schergen. Es wird ein Kaddish gesprochen, ein Totengebet, die Nationalhymne mit Stolz und Inbrunst gesungen - Israel vergewissert sich seiner selbst.
Denn so wie die Schoah und der Zionismus Pfeiler der Identität geworden sind, so sehr wird in Israel auch daran gearbeitet, in die Zukunft zu schauen. Dafür will das Land, der jüdischen Vergangenheit stets bewusst, aber nicht gefangen sein im Trauma dieser Katastrophe.
Zumal die Herausforderung im Hier und Jetzt liegt, wie der Premier, Benjamin Netanyahu, Mal um Mal deutlich macht, an diesem Tag in Jerusalem nicht anders als an einem anderen in Washington oder Berlin. Die Herausforderung durch die Terrormiliz IS, die nicht weit entfernt ihre Gräueltaten verübt, und die durch eine explosive Lage in Syrien, mit einem Iran, dessen Raketen Israel - ja, vernichten könnten. Die von Teheran unterstützte Hisbollah ist nah. Im Wunsch, Sicherheit fürs Land und Stabilität in der Region zu gewährleisten, weiß Netanyahu eine große Koalition, eine sehr große, eine der nationalen Einheit hinter sich.
Und dann ist da Schindlers Liste, Oskar Schindlers, der sich von den Nazis abwandte, der viele, viele Juden rettete und als Gerechter unter den Völkern geehrt wurde. Ein junger Mann, erzählt die Historikerin bei der Führung, hat diese Liste genommen, seinen Ausweis neben einen der Namen gelegt, seinen Familiennamen, und einen ganzen Stammbaum dazu aufgezeichnet. Bis ins Heute.
Das ist, wenn man so will, Israels neue Erzählung. Sie kommt von einer Jugend, die ihrer Vergangenheit eingedenk für das eigene Morgen vor allem eines will: in Frieden leben. Leben!
Stephan-Andreas Casdorff ist diese Woche in Israel, führt dort Gespräche mit Politikern und absolviert mit anderen Journalisten-Kollegen ein Seminar in Yad Vashem. Eindrücke zur politischen Situation schildert er in diesen Tagen auch in seiner Kolumne "Casdorffs Agenda", die jeden Morgen in der Morgenlage erscheint, dem Newsletter für Politik- und Wirtschaftsentscheider, den sie hier kostenlos abonnieren können.