Eskalation in Gaza: Israel im Raketenhagel
Die Hamas feuert mehr als 400 Geschosse auf Israel, Jerusalem reagiert mit Luftschlägen. Ist ein neuer Gazakrieg noch zu verhindern?
Was eine Rakete aus Gaza anrichtet, wenn sie es schafft, den israelischen Abfangschirm Iron Dome zu entgehen, zeigt sich am Dienstagvormittag in der Jabotinsky Straße in Aschkelon, rund 60 Kilometer südlich von Tel Aviv. Das oberste Eck des dreistöckigen des Wohnhauses ist eingerissen.
Wo die Fassade noch steht, ist sie schwarz, die Fensterscheiben sind zersprungen. Und drinnen nichts als Verwüstung. Schutt, zerbrochenes Glas, dazwischen Kinderschuhe, Haarbürsten, Fotos, eine Fernbedienung, ein Kartenspiel. Das Zuhause von zwölf Familien – zerstört.
Im Süden Israels fordern viele, die Hamas zu vernichten
30 Menschen waren zum Zeitpunkt des Raketenalarms in dem Gebäude. Der Mann, der im obersten Stockwerk wohnte, ein Palästinenser, der in Israel gearbeitet haben soll, überlebte den Angriff nicht. Eine Frau wurde schwer verletzt, berichtet Polizeisprecher Micky Rosenfeld an Ort und Stelle.
Einige Nachbarn sind gekommen. „In meiner Jugend hatte ich eine Freundin, die in diesem Haus gewohnt hat“, erzählt der 65-jährige Daniel Edri. „Da oben“, er zeigt auf die zerstörte Häuserfront. Auch wenn die Freundin heute nicht mehr hier wohnt: Der Einschlag, wenige Hundert Meter von seinem eigenen Haus entfernt, macht ihn wütend.
„Der Staat muss endlich aufwachen. Es ist die letzte Chance, das Ganze zu beenden", fordert er. Das soll heißen: Die Hamas muss zerstört werden, und dafür müsse Israel notfalls auch in Gaza einmarschieren.
Alarmsirenen sogar am Toten Meer
Edri ist einer von rund 500.000 Israelis, die nahe des Gazastreifens leben und vom jüngsten Dauerbeschuss betroffen sind. Knapp 400 Raketen wurden zwischen Montag- und Dienstagnachmittag von Gaza aus auf Israel abgefeuert – die heftigsten Attacken, die der Süden seit Langem erlebt hat. Selbst am Toten Meer und in Beerscheva heulten die Sirenen.
Viele Geschosse landeten auf offenem Feld, mehr als 60 hat das Raketenabwehrsystem Iron Dome noch in der Luft abgefangen können. In Aschkelon, Ofakim und Sderot aber schlugen Geschosse ein. Rund 70 Israelis sind nach Angaben des Polizeisprechers verletzt worden, mindestens zwei davon schwer, darunter ein 19-jähriger Soldat. Er wurde getroffen, als ein Reisebus der Armee nahe der Grenze mit Panzerabwehrraketen beschossen wurde.
Israel reagierte umgehend, mehr als 150 Ziele griffen die Streitkräfte an, darunter einen Fernsehsender der Hamas sowie ein Geheimdienstgebäude in Gaza. Sechs Palästinenser kamen ums Leben, wird berichtet. Die Armee warnte, sie werde die Angriffe verstärken und dafür eventuell Reservisten einberufen.
Dabei schien ein Waffenstillstand in den vergangenen Tagen endlich so nahe. Nach Monaten, in denen die Lage immer wieder eskalierte, sah es so aus, als könnte ein Durchbruch gelingen. Noch am Sonntag versicherte Premier Benjamin Netanjahu bei seinem Besuch in Paris: „Ich tue alles, was ich kann, um einen unnötigen Krieg zu vermeiden.“
Am Sonntagabend ging dann jedoch eine Geheimdienstoperation der israelischen Armee schief. Eine Spezialeinheit, die verdeckt in Chan Junis im Gazastreifen unterwegs war, geriet in eine Schießerei mit Hamas-Kämpfern. Sieben Palästinenser sowie ein israelischer Soldat starben.
Hält die neue Feuerpause? Viele sind skeptisch
Die Hamas begründet ihren Raketenbeschuss nun mit diesen Vorfall. Israel sieht hingegen die Hamas als Aggressor. Und Verhandlungen über eine langfristige Waffenruhe scheinen nun weiter entfernt denn je. Zwar war am Dienstagnachmittag kurzzeitig von einer frisch ausgehandelten Waffenpause die Rede. Ab 15.30 Uhr sollte der Raketenbeschuss eingestellt werden.
Doch schon Minuten später gab es im Süden Israels wieder Alarm. Kurze Zeit später dann ein neuer Anlauf für eine Feuerpause, dieses Mal soll sie wirklich eingehalten werden. Nur fragen sich viele, wie lange.
Die Leidtragenden sind wieder einmal die Menschen. In Gaza, wo es weder Iron Dome noch Schutzbunker gibt, sondern nur Anrufe der israelischen Armee, die kurz vor Angriffen die Gazaner warnen. Und in Israel, wo längst nicht alle Wohnungen Schutzräume haben.
So wie in jenem von Armut geprägten Stadtteil in Aschkelon, wo die Rakete einschlug. Hier bleibt den Menschen 30 Sekunden, um den Bunker zu erreichen, der sich im Viertel befindet. Zu wenig Zeit für Senioren, für Kinder und all jene, die im dritten Stock wohnen und schon schlafen.
Die Häuser hier sind heruntergekommen, die Leute leben unter einfachen Bedingungen. Viele von ihnen fühlen sich wieder mal im Stich gelassen – nach Jahren des Konflikts mit der Hamas, ohne Schutzräume, die nur in Neubauten Pflicht sind. „Politiker kommen nun wieder und beteuern, dass sie an uns denken“, beschwert sich einer der Nachbarn. Dann gingen sie wieder. „Es ändert sich nichts.“
Dieses Gefühl herrscht zumeist auch in Gaza vor. „Doch vor einigen Tagen hatten die Menschen ein wenig Hoffnung geschöpft“, sagt Matthias Schmale. Der Deutsche kümmert sich als Direktor des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge um die Versorgung der zumeist verarmten Einwohner im Küstenstreifen und verweist darauf, dass sich die Lage jüngst etwas entspannt habe.
Mehr Strom für Gaza
„Vor allem gibt es nun wieder zwischen zehn und zwölf Stunden pro Tag Strom.“ Noch vor Kurzem waren es bestenfalls vier Stunden. Doch Katar hat mit Israels Zustimmung Öllieferungen finanziert, damit das Hauptkraftwerk wieder in Betrieb gehen konnten.
Außerdem hat das Emirat 15 Millionen Dollar in bar nach Gaza bringen lassen, um Beamte der Hamas bezahlen zu können. Auch die von Ägypten geleiteten Verhandlungen über eine langfristige Feuerpause schienen auf einem guten Weg zu sein. „Deshalb gab es in Gaza so etwas wie vorsichtigen Optimismus. Jetzt schaukeln sich die Kontrahenten erneut gegenseitig hoch“, sagt Schmale.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen hat schon lange im Küstenstreifen quasi staatliche Funktionen übernommen. Es organisiert Schulen und Gesundheitszentren und verteilt Lebensmittel an die mehr als eine Million Bedürftigen. „Und all diese Grundienstleistungen können wir derzeit noch aufrechterhalten, obwohl die USA ihre Zahlungen eingestellt haben“, sagt Schmale.
Aber auch das kann nicht verhindern, dass die Jobs immer weniger und die Armut immer größer werden. Ein neuer Krieg, da ist sich Schmale sicher, würde alles noch schlimmer machen.
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