Flüchtlinge in Deutschland: Innenminister: Wir schaffen es nicht mehr
Die Bundesländer stoßen an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit, die Innenminister warnen vor dem Kollaps. Allein an diesem Wochenende werden 40.000 neue Flüchtlinge erwartet.
Der starke Andrang von Flüchtlingen stellt Deutschland vor immer größere Herausforderungen. Die Bundesregierung rechnet nach den Worten von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) allein an diesem Wochenende mit 40000 Neuankömmlingen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) versetzte 4000 Bundeswehrsoldaten in Rufbereitschaft. Sie sollen unter anderem bei der Registrierung der Flüchtlinge helfen. Die Bundesländer stoßen unterdessen an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit; sie sehen sich vom Bund im Stich gelassen.
Nach Tagesspiegel-Informationen kam es bei einer Telefonschaltkonferenz der Innenminister der Länder mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am Donnerstagabend zu lautstarken Auseinandersetzungen. Mehrere Teilnehmer erklärten, die Kapazitäten in ihren Ländern seien erschöpft. Sie warnten vor einem Kollaps und forderten den Bund auf, für die Flüchtlinge unverzüglich Bundeswehrkasernen zu räumen. Sonst müssten die Grenzen geschlossen werden.
Wie groß die Belastung der Länder ist, zeigt auch eine Auflistung des Bundesinnenministeriums (BMI), die den Landesinnenministerien vorliegt. Danach haben alle Länder mit Ausnahme von Bayern und Bremen seit dem 5. September insgesamt 43000 Flüchtlinge aufgenommen. Und auch diese Zahlen sind offenbar noch zu gering angesetzt. Der BMI-Liste zufolge nahm Nordrhein-Westfalen 7000 Flüchtlinge auf. Das Innenministerium in Düsseldorf spricht von bis zu 15000.
Die CSU macht Kanzlerin Merkel für die Entwicklung verantwortlich
Die CSU macht Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für die Entwicklung verantwortlich. CSU-Chef Horst Seehofer sagte zu Merkels Entscheidung, am vergangenen Wochenende Flüchtlinge aus Ungarn unregistriert nach Deutschland fahren zu lassen: „Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird. Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen.“ Deutschland werde bald in eine „nicht mehr zu beherrschende Notlage“ geraten, sagte er dem „Spiegel“. Der frühere Bundesinnenminister Hans- Peter Friedrich (CSU) sprach von einer „beispiellosen politischen Fehlleistung“. „Wir haben die Kontrolle verloren“, sagte er der „Passauer Neuen Presse“. Zehntausende Menschen würden sich unkontrolliert durch Deutschland und Europa bewegen. Man könne nur unzuverlässig abschätzen, wie viele IS-Kämpfer oder „Schläfer“ darunter seien.
Auch in der CDU gärt es. Ein hochrangiger CDU-Landespolitiker sagte, Merkel habe die Dimension des Flüchtlingszustroms „falsch eingeschätzt“. Aus „übergeordnetem nationalen Interesse“ müssten nun die Grenzen dicht gemacht werden. Geschehe dies nicht, sei mittelfristig „die Auflösung der staatlichen Verwaltung“ zu befürchten. Außerdem sei mit Ausschreitungen zu rechnen, wenn Flüchtlinge nicht mehr untergebracht werden könnten und schließlich in Fußgängerzonen campieren würden.
Kritik kam auch von der SPD. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sagte dem Tagesspiegel: „Es war zwar richtig, dass die Kanzlerin aus humanitären Gründen die Grenzen geöffnet hat.“ Mit der Entscheidung habe Merkel die Länder jedoch überrumpelt. „Das darf nicht wieder passieren.“ Merkel bekräftigte dagegen ihre Einschätzung, dass Deutschland die Aufgabe bewältigen könne. Die wirtschaftliche Lage sei gut, sagte sie der „Rheinischen Post“. „Die Kosten für die Aufnahme der Flüchtlinge können wir tragen.“
Außenminister Steinmeier warb am Freitag bei einem Treffen mit seinen Kollegen aus Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei um Unterstützung bei der Aufnahme von Flüchtlingen. „Wir sind hier auf europäische Solidarität angewiesen“, sagte der SPD-Politiker. Trotz der großen Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung würden „die Möglichkeiten bei uns immer enger“. Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn lehnten verpflichtende Quoten zur Aufnahme von Flüchtlingen aber erneut ab.
Ungarn könnte am Dienstag den Krisenfall ausrufen
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban kündigte ein drastisches Vorgehen an. Sollte das ungarische Kabinett am Dienstag den Krisenfall ausrufen, werde jeder illegale Einwanderer sofort verhaftet, sagte er. „Wir werden sie nicht mehr höflich begleiten wie bisher.“ Ungarn rechnet mit bis zu 500000 Flüchtlingen bis zum Ende des Jahres. Ungarns Botschafter in Berlin, József Czukor, macht Deutschland mitverantwortlich für die dramatische Entwicklung. „Die Nachrichten, die derzeit täglich aus Deutschland in den Flüchtlingslagern in Jordanien, dem Libanon und der Türkei ankommen, lauten: In Deutschland ist jeder willkommen. Dann machen sich natürlich viele auf den Weg“, sagte Czukor dem Tagesspiegel.
Eine Mehrheit der Bürger ist mit der deutschen Flüchtlingspolitik einverstanden. 66 Prozent der Befragten im „Politbarometer“ von ZDF und Tagesspiegel halten die Entscheidung für richtig, Zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen. 29 Prozent sehen das nicht so. 85 Prozent gehen davon aus, dass diese Entscheidung zur Folge hat, dass sich noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland auf den Weg machen werden.
Lesen Sie hier ein Interview mit dem ungarischen Botschafter in Deutschland: "Ungarn setzt EU-Recht durch".