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Flüchtlinge in Ungarn auf dem Weg nach Österreich.
© dpa

Interview mit Ungarns Botschafter in Deutschland: "Ungarn setzt EU-Recht durch"

Ungarns Botschafter in Deutschland, József Czukor, über die Flüchtlingskrise in Europa und die Kritik an seinem Regierungschef Viktor Orban.

Herr Botschafter, Ungarn wird in der Flüchtlingskrise massiv kritisiert. Zu Unrecht?

Ungarn macht nichts anderes, als EU-Recht durchzusetzen. Dass nämlich jeder, der den Schengenraum betritt, kontrolliert und registriert wird. Einreisen darf nur, wer die dafür gültigen Papiere vorlegen kann oder sich als Schutzsuchender registrieren lässt. Dazu sind wir als Mitglied des Schengenraums verpflichtet. Und es ist höchst ungerecht, uns dafür zu kritisieren. Wir wollen niemanden abweisen. Aber wir müssen darauf bestehen, dass jeder, der nach Ungarn einreisen will, dies über die offiziellen Grenzübergänge tut.

József Czukor, scheidender Botschafter Ungarns in Berlin.
József Czukor, scheidender Botschafter Ungarns in Berlin.
© Kitty Kleist-Heinrich

Ist es denn die richtige Antwort zu sagen, am 15. September machen wir die Grenze dicht und postieren dort Soldaten? Führt das nicht zu einer weiteren Eskalation?

Die Eskalation ist doch bereits da. Seit drei Wochen schon. Und wenn das so weitergeht, werden wir nicht nur 3000 Grenzübertritte täglich haben, sondern 5000 oder 10.000. Wir wissen übrigens gar nicht, ob die Menschen, die jetzt kommen, tatsächlich alle schutzbedürftig sind. Deswegen sind die Überprüfung und die Registrierung so wichtig. Eine effektive Grenzkontrolle ist der erste Schritt. Sonst zerfällt der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dann verlieren wir etwas, was wir in den letzten Jahren mühsam aufgebaut haben – dass europäische Bürgerinnen und Bürger sich frei in diesem Raum bewegen können.

Wie erklären Sie sich dieses negative Bild Ungarns?

Es gibt eine öffentliche Stimmung vor allem in Deutschland, die rein von humanitären Gesichtspunkten geprägt ist und Rechtsvorstellungen ignoriert. Wir können aber nicht humanitär handeln, wenn wir uns nicht an das Recht halten. Was wir heute erleben, dass Österreich die Autobahn 4 total gesperrt hat, führt wiederum vor Augen, wie fragwürdig die Rechtslage geworden ist. . Unsere Partner, in diesem Fall Österreich, wollen schließlich auch ihre Grenzen schützen. Deshalb müssen wir aufhören, uns gegenseitig zu beschuldigen. Wenn sich jemand an die gemeinsam vereinbarten Regeln hält, kann er Solidarität erwarten und nicht Kritik.

Sie haben das Wort Solidarität genannt. Da ist es schwer nachzuvollziehen, warum ausgerechnet Ungarn gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene Quotenlösung ist.

Bevor wir irgendetwas beschließen, brauchen wir ein besseres Bild. Wir wissen doch gar nicht, wie viele Menschen im Moment unterwegs sind. Es gibt nicht einmal grobe Schätzungen. Die Kommission hat dafür Mittel und Instrumente, sie hat die Grenzschutzagentur Frontex. Die hätten schon vor Monaten entsprechende Prognosen erstellen müssen. Doch das wurde versäumt.

Was schlagen Sie also vor?

Die Reihenfolge der Maßnahmen ist am wichtigsten. Die Kontrollen der EU-Außengrenzen müssen dringend durchgesetzt werden. Dafür gibt es genug Kräfte in Griechenland, in den Transitländern und auch in Ungarn. Am wichtigsten ist jetzt die Einrichtung großer Aufnahmezentren, sogenannter Hotspots, wie wir es im Juni im Europäischen Rat vereinbart haben. Dort kann die effektive Registrierung erfolgen. Dann kennen wir die Zahlen und können über eine Verteilung sprechen.

Ungarn würde dann auch so ein Aufnahmezentrum einrichten?

Wenn die beschlossenen Maßnahmen richtig umgesetzt werden, brauchen wir so etwas in Ungarn nicht. Denn die meisten Flüchtlinge betreten den Schengenraum in Griechenland oder Italien. Wenn die Registrierung dort ordentlich erfolgt, bräuchten wir auch keine weiteren Maßnahmen an unseren Grenzen.

Ist es denn nicht realitätsfern, ausgerechnet dem ärmsten EU-Staat eine solche Bürde aufzuerlegen?

Griechenland wird das nichts kosten, denn die geplanten Aufnahmezentren werden von der EU, also von der Kommission und den Mitgliedsstaaten gemeinsam getragen. Auch von Ungarn. Und wir stellen auch Beamte zur Verfügung. Wir können doch nicht Rechtsbrüche akzeptieren, nur weil jemand schwach ist. Wenn der Betroffene schwach, dann braucht er Hilfe, und die Hilfe ist zugesagt. Nur passiert ist nichts.

Viele sind aber jetzt längst aus Griechenland weitergezogen - und sie sind in Not.

Ich weiß auch, dass die Menschen, die zu uns kommen, in einer verzweifelten Situation waren. Vor allem jene, die aus Syrien kommen. Doch wer in Ungarn ankommt, hat zuvor mehrere Länder durchquert, in denen sein Leben nicht bedroht war. Wir müssen uns doch fragen, warum entscheiden sich plötzlich wöchentlich zehntausende Menschen, über Mitteleuropa an die serbisch-ungarische Grenze zu kommen. Die werden nicht von der amerikanischen Weltraumagentur Nasa dort abgesetzt, sondern von Schleusern dorthin geführt. Statt immer wieder Streit mit Ungarn zu suchen, müssten wir in der EU die Schleuser effektiver bekämpfen. Wir sehen aber keine Erfolge im Kampf gegen die Schlepper. Ungarn selbst hat dagegen allein bisher 900 Schlepper verhaftet.

Droht Europa an dieser Krise zu zerbrechen?

Die Gefahr besteht. Aber es ist auch falsch, jetzt mit dem Finger auf einige osteuropäische EU-Mitglieder zu zeigen, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Diese Staaten haben in der Tat Bedenken. Aber doch nicht, weil sie fremdenfeindlich sind. Wir sind nun einmal 28 unterschiedliche Nationen, das gilt es zu respektieren. Aber wir sind eben auch verbunden durch gemeinsame Werte, und diese Werte sind in unserem gemeinsamen Recht verankert.

Was werfen Sie Deutschland vor?

Wir kritisieren nicht die Bundesregierung. Sie bemüht sich auf höchster Ebene, klare Botschaften zu senden. Ich appelliere vor allem an die Medien hier in Deutschland, mit dem Thema verantwortungsvoll umzugehen. Die Nachrichten, die derzeit täglich aus Deutschland in den Flüchtlingslagern in Jordanien, dem Libanon und der Türkei ankommen, lauten: In Deutschland ist jeder willkommen. Dann machen sich natürlich viele auf den Weg. Wir brauchen eine mediale und kommunikative Abrüstung.

Gilt das nicht vor allem auch für Ihren eigenen Regierungschef?

Wenn jemand über Monate, ja über Jahre im Zentrum der Kritik steht, dann darf man sich nicht wundern, dass auch ein Ministerpräsident einmal eine kritische Bemerkung über die aktuellen Umstände macht. Viktor Orban hat übrigens nie Angela Merkel oder die Bundesregierung kritisiert. Er hat aber zu Recht gesagt, dass in Deutschland eine Stimmung entstanden ist, die verheerende Auswirkungen hat.

Jean Asselborn, der Außenminister Luxemburgs, hat neulich in einem Interview gesagt, man müsse sich für Orban schämen. Er verglich ihn sogar indirekt mit Kim il-sung.

Solche Vergleiche weise ich entschieden zurück. Das sind bedauerliche Eskalationen, die wir vermeiden wollen. Ich wiederhole: Wir brauchen eine mediale und kommunikative Abrüstung. Ich möchte in diesem Zusammenhang einmal sagen, dass Luxemburg bisher kaum Flüchtlinge aufnimmt. Besinnen wir uns doch darauf, dass wir alle Demokraten sind. Die anderen Debatten sollten wir mit Respekt und im europäischen Geist führen, wenn wir die aktuellen Probleme gelöst haben.

József Czukor, 57, ist seit 2010 außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Republik Ungarn in Deutschland.

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