Digitale Überwachung: Indien hat eine Milliarde Menschen eingescannt
Um den Missbrauch von Lebensmittelkarten durch Nichtbedürftige zu unterbinden, setzt Indien auf biometrische Erkennung. Das weckt Ängste vor dem Überwachungsstaat.
„Nichts funktioniert. Wir sind aufgebracht“, sagt die 60-jährige Witwe Shanno Devi in New Delhi. Die Frau, die von Lebensmittelkarten lebt, hat seit Januar kein Essen mehr erhalten. Der Grund: Ihre biometrischen Daten werden nicht eingelesen. Seit Januar bekommt in Indiens Hauptstadt nur noch staatliche Hilfen, wer seine Aadhaar-Nummer vorlegt und Fingerabdrücke nehmen lässt. Im Oktober verknüpfte die Stadtregierung die Daten aller zwei Millionen Einwohner, die Anrecht auf staatliche Unterstützung in Form von Reis und anderen Nahrungsmitteln haben, mit der Aadhaar-Datenbank, in der 1,2 Milliarden Inder – 99 Prozent der erwachsenen Bevölkerung – inzwischen registriert sind.
Der größte biometrisch gestützte Digitalisierungsprojekt der Welt begann 2009 mit einem Versprechen an die Armen: Durch eine einmalige zwölfstellige Nummer sollte der Missbrauch von Lebensmittelkarten durch Nichtbedürftige unterbunden werden, und die staatlichen Hilfen sollten endlich denen zugutekommen, die sie am nötigsten brauchten. Die Nummer eines jeden indischen Bürgers sollte in einer einzigen zentralen Datenbank mit seinen persönlichen Angaben, seiner Adresse, einem Foto, zehn Fingerabdrücken und zwei Scans der Iris – der Regenbogenhaut im Auge – gespeichert werden.
Lob von der Weltbank
Der hoch angesehene Nandan Nilekani, Mitbegründer des IT-Erfolgsunternehmens Infosys, übernahm die Leitung des Datenprojektes. Aadhaar, was in der Hindi-Sprache so viel wie „Grundlage“ bedeutet, wurde Nilekanis Vorzeigeprojekt. Die Weltbank lobte es als „das anspruchsvollste Ausweis-Programm der Welt“.
Von 2009 bis 2017 besuchten Nilekanis Mitarbeiter jeden Winkel Indiens, um Namen, Fotos, Fingerabdrücke und Iris-Scans der indischen Bevölkerung aufzunehmen. Als 2014 die Regierung wechselte und Premierminister Narendra Modi, ein Kritiker des Aadhaar-Programms, die Regierung übernahm, machte sich Nilekani umgehend persönlich auf, um für den Erhalt des Projektes zu werben.
Das Treffen mit dem neu gewählten Regierungschef war ein voller Erfolg: Wenige Tage später erhielt Aadhaar ein zweites Leben. Das Projekt, das ursprünglich eine freiwillige Registrierung vorsah, wurde unter Modi zu einem obligatorischen System ausgebaut. Kürzlich machte die Verwaltung in der südindischen Stadt Hyderabad Aadhaar für einen Barbesuch obligatorisch. Wer in Hyderabad ein Glas Wein oder Bier trinken möchte, muss seine Karte vorzeigen.
"Meine Iris gehört mir"
Nur wer in der nationalen Datenbank registriert ist, kann ein Bankkonto eröffnen, eine Telefonnummer oder Kreditkarte erhalten, Sozialleistungen in Anspruch nehmen, eine Ehe schließen, Grundstücke registrieren oder Steuern zahlen. „Gibt es ein Leben ohne Aadhaar?“, fragte kürzlich eine Zeitung angesichts der umfassenden Datensammlung.
Widerstand gegen das Projekt regte sich bereits 2010, als die ersten Karten vergeben wurden. Damals schon warnten Datenschützer und Bürgerrechtler davor, dass das Mega-Datenprojekt in seiner Anlage totalitär, verfassungswidrig und freiheitsbeschränkend sei.
Inzwischen wächst die Sorge, dass Aadhaar Indien in einen Überwachungsstaat verwandelt. Das Mega-Datenprojekt verändere die Beziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat, argumentiert der bekannte Menschenrechtsanwalt Shyam Divan, der gegen Aadhaar vor Gericht gezogen ist. „Meine Fingerabdrücke und meine Iris gehören mir und nur mir. Der Staat kann mir meinen Körper nicht wegnehmen“, argumentiert der Jurist. Der Staat könne nicht auf der einen Seite sagen, die Registrierung sei freiwillig, wenn auf der anderen Seite verlangt werde, dass eine Aadhaar-Nummer in die Steuererklärung eingetragen wird, so Divan. „Die globalen Unternehmen brauchen Aadhaar, nicht die Armen“, wettert der Anwalt Kapil Sibal und verweist auf Fälle wie den der Witwe Shanno Devi, die nun ohne Nahrungsmittelhilfen auskommen muss.
Regierung bestreitet Datenlecks
Datenschützer kritisieren darüber hinaus mangelnde Transparenz und Sicherheit des Projektes. Es sei unklar, wer alles Zugriff auf die Datenbank habe und wie die Daten geschützt würden. Kürzlich erklärten Journalisten der Zeitung „The Tribune“, sie hätten für 500 Rupien, umgerechnet 6,30 Euro, Einblick in die Datenbank bekommen. Ein anonymer Verkäufer habe ihnen über WhatsApp und einen digitalen Bezahlservice Zugang zum Aadhaar-System verschafft. Die Regierung bestreitet jedoch vehement, dass es Datenlecks gibt.
Das Oberste Gericht des Landes erklärte Ende Januar, die Datenschutz-Sorgen müssten ernst genommen werden. Dass Privatfirmen Zugang zum Aadhaar-System hätten, sei sehr bedenklich. Andererseits könne nicht bestritten werden, dass die Plattform den Bürgern Nutzen bringe. Während vor Gericht noch über die Verfassungsmäßigkeit der Datensammlung gestritten wird, tickt die Uhr: Banken, aber auch Telefonanbieter haben ihren Kunden Fristen bis zum 1.April gesetzt. Wer dann keine Aadhaar-Nummer bringt, dessen Konto oder Telefon soll gesperrt werden. Offenbar gibt es wirklich kein Leben ohne Aadhaar mehr.