Siedlungen im Westjordanland: In Israel wächst der Widerstand gegen Netanjahus Annexionspläne
Premier Netanjahu will Teile des Jordantals zu Israels Staatsgebiet erklären. Nicht nur international ist der Plan umstritten.
Der Rabin-Platz im Herzen Tel Avivs hat lange nicht so viele Palästina-Fahnen gesehen wie am Samstagabend. Mehrere Tausend Menschen versammelten sich dort, um gegen die Annexionspläne der Regierung zu protestieren. „Nein zur Annexion“, stand auf ihren Schildern und: „Stoppt Apartheid“.
Organisiert hatten die Demonstration die linksliberale Partei Meretz, die arabisch dominierte Partei Hadash und einige links orientierte zivilgesellschaftliche Gruppen.
Israels kürzlich vereidigte neue große Koalition hat Premierminister Benjamin Netanjahu – es ist bereits seine fünfte Amtszeit – das Mandat erteilt, ab dem 1. Juli einige der umstrittenen Siedlungen im besetzten Westjordanland zu israelischem Staatsgebiet zu erklären. Aus Protest gegen das Vorhaben hatte Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, vor wenigen Wochen sämtliche Abkommen mit dem jüdischen Staat aufgekündigt.
„Annexion ist ein Kriegsverbrechen“
Aber auch im Land selbst ist der Plan umstritten, wie die jüngste Demonstration zeigte. Maximal 2000 Teilnehmer hatte die Polizei erlaubt, Medienberichten zufolge kamen jedoch bis zu 6000 Menschen, die Regeln des Social Distancing in Corona-Zeiten eher nachlässig einhaltend. „Annexion ist ein Kriegsverbrechen“, rief der Meretz-Vorsitzende Nitzan Horowitz. „Wir können nicht eine Besatzung, die Dutzende Jahre gedauert hat, durch eine Apartheid ersetzen, die für immer gilt.“ US-Senator Bernie Sanders, noch bis vor Kurzem Präsidentschaftskandidat der Demokraten, stärkte den Tel Aviver Demonstranten aus der Ferne den Rücken: „Die Pläne, einen Teil des Westjordanlands illegal zu annektieren, müssen gestoppt werden“, sagte er per Videobotschaft. „Ich weiß, dass ich für so viele Menschen hier in den USA spreche, wenn ich euch meine Solidarität ausspreche.“
Israel beruft sich auf sogenannten Jahrhundertdeal
Eine Woche zuvor hatten Polizisten in Jerusalem einen autistischen, unbewaffneten Palästinenser erschossen – angeblich hatten sie das Handy in seiner Hand für eine Waffe gehalten. In Anspielung auf die Proteste gegen Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten und den Slogan „Black Lives Matter“ trugen manche Demonstranten am Samstagabend Schilder mit der Aufschrift „Palestinian Lives Matter“. Am selben Abend kam es zu Handgemengen zwischen Teilnehmern und Sicherheitskräften, wie Videos in sozialen Medien belegen. Die Polizei nahm fünf Menschen fest, darunter einen Fotojournalisten der Zeitung „Haaretz“.
Die israelische Regierung beruft sich bei ihren Annexionsplänen auf den sogenannten Deal des Jahrhunderts, den die US-Regierung zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts vorgelegt hat. Der Plan gesteht Israel zu, Siedlungen zum Staatsgebiet zu erklären. Allerdings sieht er auch vor, den Palästinensern für ihren zukünftigen Staat im Austausch einige Gebiete entlang der israelisch-ägyptischen Grenze zuzuschlagen. Große Teile der israelischen Rechten lehnen jegliche Zugeständnisse an die Palästinenser, die der Plan enthält, kategorisch ab; einige Politiker, etwa der frühere Verteidigungsminister Naftali Bennett, fordern ganz offen, nur jene Teile des Planes umzusetzen, die Israel zugutekommen, zum Beispiel die Annexion von Siedlungen, die Netanjahu nun plant.
Deutliche Position der USA
Ob die US-Regierung dies tolerieren würde, ist unklar. Jared Kushner, Schwiegersohn und Nahost-Beauftragter Donald Trumps, hatte Netanjahu Anfang des Jahres im Hinblick auf dessen Annexionspläne signalisiert, auf die Bremse zu treten; US-Außenminister Mike Pompeo dagegen sagte kürzlich während eines Besuchs in Jerusalem, die Frage sei „letztendlich eine israelische Entscheidung“.
Deutlicher ist die Position der meisten EU-Staaten. Sie lehnen die Annexionspläne entschieden ab. Manche, darunter Frankreich, Spanien und Schweden, sollen gar auf Sanktionen gegen Israel drängen. Auch Außenminister Heiko Maas hält eine Annexion für völkerrechtswidrig. Israelischen Medien zufolge plant er diese Woche einen Blitzbesuch in Jerusalem, offenbar in der Hoffnung, Netanjahu umzustimmen. Es dürfte kein leichtes Unterfangen werden.
Mareike Enghusen