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Der britische Historiker Timothy Garton Ash.
© Arno Burgi/dpa-Zentralbild/dpa

Europäische Union: "In gewisser Hinsicht wäre ein Kanzler Schulz für Europa sogar besser"

Der britische Historiker Timothy Garton Ash sieht die EU in der Krise, aber nicht am Ende. Deutschland werde auch nach der Bundestagswahl eine "Koalition der Mitte" haben.

Der Brite Timothy Garton Ash (61) zählt zu in den international renommiertesten Historikern. Am 25. Mai wird der Oxford-Professor in Aachen mit dem Karlspreis ausgezeichnet.

Sie erhalten den Karlspreis im Jahr der größten Krise der Europäischen Union - würden Sie dem zustimmen?

Es ist sicherlich eine existenzielle Krise, aber es hat in der Geschichte der Europäischen Union viele schwere Krisen gegeben. Man sollte nicht den Eindruck erwecken, als ob die Europäische Union morgen zusammenbrechen könnte, so wie das Römische Reich zusammengebrochen ist. Wir sind soviel weiter vorangeschritten, dass auch ein schwerer Rückschlag noch nicht das Ende bedeuten muss.

Ihr Historiker-Kollege Ian Kershaw hat kürzlich gesagt, sollte Marine Le Pen die französische Präsidentschaftswahl gewinnen, wäre dies das Ende der EU.

Es wäre sicherlich ein sehr dramatisches Ereignis. Aber es ist für eine französische Präsidentin weitaus schwieriger als für eine britische Premierministerin, ihr Land aus der Europäischen Union zu führen. Ohne Referendum ginge es nicht, und dass bei einem solchen Referendum eine Mehrheit der Franzosen für den Austritt stimmen würde, möchte ich bezweifeln. Außerdem gibt es ja auch noch die sogenannte Krisentheorie der europäischen Integration, wonach die EU in der Vergangenheit gerade an Krisen gewachsen ist.

Da gibt es ja jetzt aktuell die Theorie, dass die EU-feindliche US-Regierung von Donald Trump dazu führen könnte, dass Europa enger zusammenrückt.

Ich halte es für übertrieben, dass Donald Trump ungewollt die europäische Integration vorantreiben könnte. Es stimmt zwar, dass die Sowjetunion immer ein negativer Integrator gewesen ist. Aber ich wage zu bezweifeln, dass es jetzt von Vorteil sein könnte, wenn die EU - gerade in ihrem derzeitigen Zustand - sowohl von Putin als auch von Trump unter Druck gesetzt wird.

Hier in Deutschland ist oft zu lesen, dass die EU in diesem Jahr drei große populistische Herausforderungen zu bestehen hat: die Parlamentswahl in den Niederlanden von Mitte März, die französische Präsidentschaftswahl im April/Mai und im September die Bundestagswahl. Passt die Bundestagswahl wirklich in diese Reihe?

Nein. Denn in Deutschland besteht nicht die Gefahr, dass die Populisten gewinnen. Egal ob mit Merkel oder mit Schulz: Es wird eine Koalition der Mitte geben. Es ist eine Ironie der Geschichte - aber eine gut erklärbare Ironie der Geschichte -, dass heute gerade Deutschland als Insel der Stabilität und letzte Hoffnung des Liberalismus dasteht.

Sie haben letztes Jahr nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ja sogar geschrieben, Sie seien fast versucht, Angela Merkel jetzt als Führerin der freien Welt zu betrachten.

Ja, aber wie Sie schon richtig sagen, die Formulierung war „versucht zu sagen“. Da steckt eine gewisse Ironie drin, und es hat mich dann schon gewundert zu lesen, dass Zeitungen in aller Welt anschließend geschrieben haben: „Ist Angela Merkel jetzt die Führerin der westlichen Welt?“ Natürlich ist die Rolle von Angela Merkel außerordentlich wichtig. Aber gleichzeitig ist auch klar, dass Deutschland nicht die Rolle Amerikas übernehmen kann. Das wäre absurd.

Etwas anderes, was Sie Ende des vergangenen Jahres gesagt haben, war, dass Sie hoffen, dass Angela Merkel die Bundestagswahl im September gewinnen wird. Können Sie sich mittlerweile auch einen Bundeskanzler Martin Schulz vorstellen?

Ich kann mir sehr gut einen Bundeskanzler Martin Schulz vorstellen. In gewisser Hinsicht wäre ein Kanzler Schulz für Europa sogar besser. Denn die SPD hat seit langem mehr Flexibilität in Sachen Euro gezeigt, und gerade Martin Schulz mit seiner gesamteuropäischen Erfahrung versteht, was da nötig ist. Insofern wäre mit einem Präsidenten Emmanuel Macron in Frankreich und einem Bundeskanzler Martin Schulz in Deutschland eine Art Deal denkbar. Auf der einen Seite mehr Reform in Frankreich und auf der anderen Seite mehr Flexibilität beim Euro, etwa bei der Verschuldung Griechenlands und bei der Frage größerer Investitionen, Ankurbelung der Nachfrage.

Also sind Sie jetzt nicht mehr für Merkel?

Ich bin nicht parteipolitisch festgelegt. Und ich habe größten Respekt vor Angela Merkel. Natürlich hätte es einen großen Nachteil, wenn sie von der Weltbühne abtreten würde: Sie ist eine überaus erfahrene und in der ganzen Welt geachtete Staatsfrau. Sogar Putin respektiert sie. Aber auch mit Martin Schulz bliebe Deutschland ein stabilisierender Faktor. (Interview: dpa)

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