Krieg in der Ostukraine: In der Pufferzone
Viele schwere Waffen verschwinden inzwischen von der Front in der Ukraine, die Menschen dort atmen auf - etwas. Ein Besuch im Krisengebiet.
Die Fahrt von Kramatorsk in die 40 Kilometer südlich gelegene Grubenstadt Dscherschinsk dauert nur eine Stunde. Die wichtige Regionalstraße wird immer schlechter, bald haben die Löcher den ganzen Asphalt verschluckt. Unterwegs müssen die Mobiltelefone abgeschaltet werden, das Fotografieren von Soldaten und deren Konvois ist strikt untersagt. An Ortseinfahrten und allen wichtigen Kreuzungen gibt es Straßensperren, doch der dunkelblaue Militärbus wird einfach durchgewunken. Der bewaffnete Fahrer in der kugelsicheren Weste orientiert sich mit GPS. Wenn er die Augen zu lange auf den Monitor richtet und in ein Loch fährt, springt die Munitionskiste auf. "Noch zehn Kilometer bis zur Frontline", sagt er.
Der letzte Checkpoint ist besonders stark bewacht
Die Front im Bürgerkrieg in der Ukraine zwischen Dscherschinsk und Horliwka, das seit April von prorussischen Rebellen kontrolliert wird, verläuft im Zickzack, denn die beiden Kriegsparteien mussten bei den Friedensverhandlungen von Minsk die Kohlegruben der einstigen Zwillingsstadt aufteilen. Heute gehe kein Stollen unter Tage mehr auf Feindesgebiet über, versichert einer der vier Soldaten. Der letzte Checkpoint ist besonders stark bewacht, und die Vermummten nehmen es ernst. Noch etwa fünf Kilometer sind es bis zur Stadteinfahrt, doch hier beginnt die sogenannte "graue Zone", eine Pufferzone zwischen Regierungs- und Separatistengebiet. Die Bergarbeiterstadt Dscherschinsk hat das Pech, genau in dieser Sonderzone zu liegen. Im hier beginnenden dicht besiedelten Bergbaugebiet gehen jedoch viele Städte ineinander über. Seit dem Teilabzug der ukrainischen Armee, und vor allem ihrer schweren Waffen, sind Orte wie Dscherschinsk den Rebellen ausgeliefert. "Wir sind weg, die Russen stoßen nach und schießen auf alles, was sich bewegt", sagt ein Soldat.
In diesem Moment stimmt das wohl nicht ganz, es ist ruhig. Die Einfahrtstraße führt an Kohlegruben und graubraunen Gartensiedlungen vorbei. Nur wenige Personen sind auf der Straße, an einer Wegkreuzung hat gar ein kleines Geschäft geöffnet. Die auf der Anfahrt immer wieder sichtbaren Flaggen in den ukrainischen Nationalfarben hellblaugelb gibt es hier sicherheitshalber nicht.
Fünf Kilometer südlich beginnt das Rebellengebiet
Der Armeebus hält beim Busbahnhof mitten im Zentrum. Fünf Kilometer südlich beginnt das Rebellengebiet, doch hier fahren die privaten grünen Stadtbusse ab, als ginge das Leben einfach weiter. Es dauert allerdings länger, bis Bus Nummer 9 gefüllt und damit abfahrtbereit ist, als vor dem Krieg. Bis Ende Januar bezog das ukrainisch regierte Dscherschinsk das Trinkwasser aus einer gemeinsamen Leitung mit dem separatistisch regierten Horliwka. Dann schlug eine Granate in die Röhre ein und stoppte die Versorgung. Wassermangel und Alternativrouten werden in der Lokalzeitung "Dscherschynski Schatjor" („Dscherschinsker Kumpel“) seitdem heftig diskutiert. Kriegsbedingte Probleme mit der Infrastruktur machen das Leben für die Dagebliebenen immer schwieriger. Ein Vierzigjähriger in einem guten schwarzen Mantel bekennt zwischen Leninstatue und ausgebranntem Rathaus freimütig, er halte schon einen Rucksack mit allen nötigen Dokumenten in seiner Wohnung bereit. "Noch habe ich Arbeit hier, doch sobald sich die Sicherheitslage verschlechtert, mache ich mich aus dem Staub", sagt der Mann. Etwa zwei Drittel der rund 40.000 Einwohner hätten bereits das Weite gesucht, genaue Zahlen kenne niemand, berichtet er.
"Meine Nachbarin lebt im Keller, denn ihr Haus ist zerstört", sagt die Frau
Der nahe Markt ersetzt die längst geschlossenen Supermärkte. Am Eingang steht die Rentnerin Nadja und verkauft Knoblauch. Die 58-Jährige würde gerne flüchten, denn ihr Außenquartier in der Nähe der Phenol-Fabrik werde fast täglich von Horliwka aus beschossen, erzählt sie. "Meine Nachbarin lebt im Keller, denn ihr Haus ist zerstört", sagt die Frau und senkt den Blick. "Doch wohin kann ich schon mit meiner Rente von umgerechnet 40 Dollar", fragt sie resigniert. "Wir sind in der Pufferzone gelandet, niemand braucht uns, niemand will uns", sagt ihre Marktnachbarin Vera, die ebenfalls unmittelbar an der Frontlinie lebt. Vera verkauft ihre letzten Gemüse-Einmachgläser.
Plötzlich ist ein dumpfer Knall zu hören. Zwei weitere Explosionen folgen
Etwas weiter im Marktgeviert werden Samen und Setzlinge für den Frühling verkauft. Eine jüngere Frau in einer grauen Windjacke mag die depressive Grundstimmung nicht teilen. "Ich bleibe hier, denn hier ist meine Stadt, hier wurde ich vor 33 Jahren geboren", sagt sie trotzig. Gerade habe sie eine Granatattacke auf ihren Wohnblock überlebt, erzählt sie.
Keine halbe Stunde später ist aus Süden plötzlich ein dumpfer Knall zu hören. Zwei weitere Explosionen folgen. „Nichts wie weg! Wir werden beschossen!“, sagt der Fahrer und wirft den Motor an. Der Armeebus kurvt um den Markt und braust Richtung Nordwesten. "Das war wohl die Panzerhaubitze D-30; die sollte längst abgezogen sein", sagt der Fahrer.