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Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
© Gleb Garanich/Reuters

Krieg in der Ukraine: „Dann sind wir kaputt“ - Flüchtlinge erzählen

Olga entkam in letzter Minute aus Debaltsewo. Ihre Großeltern weigerten sich, die Heimat zu verlassen. Ob sie noch leben, weiß sie nicht. Während die Politik um eine Lösung im Ukrainekrieg ringt, wächst die Not in den umkämpften Gebieten.

Punkt 11.30 Uhr rollt der Zug in den Kiewer Hauptbahnhof ein. Er kommt aus Kostjantiniwka, einer Stadt in der Nähe von Donezk, und wieder, wie jeden Tag, wenn Zug 334 in dem stalinistischen Bau ankommt, sind Flüchtlinge an Bord. 239 sind es dieses Mal. Sie kommen aus der Ostukraine. Viele der Fliehenden, die auf den Bahnsteig treten, sind alt, einige auf Rollstühle oder Krücken angewiesen. In der Wartehalle werden sie von Mitarbeitern des Roten Kreuzes in Empfang genommen. Sie bekommen Essen und Quartiere zugeteilt, medizinische und psychologische Betreuung. Das Innenministerium schätzt, dass seit Freitag fast 2000 Menschen in Kiew angekommen sind. Während die internationale Politik um eine Lösung ringt, wird die Situation der Menschen im Dombass immer verzweifelter. Die Stadt Debaltsewo ist wegen der Gefechte von der Welt abgeschnitten. Um trotzdem ein Bild der Lage vor Ort zu zeichnen, haben unsere Autoren mit Menschen in den umkämpften Gebieten telefoniert.

"Am 19. Januar begann der Albtraum"

Ich habe im Zentrum von Debaltsewo im einem fünfstöckigen Hauses gewohnt. Die letzten drei Wochen gab es keinen Strom und praktisch kein Wasser mehr. Man konnte nicht mal Essen aufbewahren.

Bei uns im Stadtzentrum hatten wir immerhin noch Generatoren, die die Armee vor die Bombenschutzkeller gestellt hat. Da konnten wir unsere Telefone aufladen. Aber das Netz funktioniert nur noch sehr selten. Über die Telefone konnten wir mit der Außenwelt in Kontakt treten und erfahren, was überhaupt passiert. Meine 74-jährige Mutter wohnt ein paar Kilometer außerhalb, direkt an der Front. Die Menschen dort wussten überhaupt nichts: weder von der humanitären Hilfe noch von Fluchtkorridoren. Die Behörden hatten sie vergessen.

Ende Juli saßen wir schon einmal vier Tage im Keller, als die ukrainische Armee einrückte und die Stadt von den Separatisten zurückeroberte. Danach gab es immer mal wieder Beschuss, im September wurde auch unser Haus getroffen, aber das Leben war doch einigermaßen normal. Weihnachten wurde es sogar ganz still. Als sie am Morgen des 19. Januar anfingen, uns im Zentrum mit Grad-Raketen zu beschießen, da begann der Albtraum. Die Polizei ist schon nach Artjomowsk verlegt worden, und in der Stadt herrscht Chaos. Jetzt liegen neben dem Haus Leichen, und niemand sammelt sie auf. Die Straßenhunde laufen herum und schnüffeln an ihnen.

Es gehen Gerüchte um. Die Leute erzählen sich, dass Mitglieder eines Bataillons durch die Häuser gehen, die Türschlösser aufschießen und die Sachen stehlen. Aber ich frage sie: Habt ihr das selber gesehen oder nur gehört?

Die letzte Woche haben wir im Keller verbracht

Von neun Wohnungen sind in unserem Haus noch vier bewohnt, praktisch nur von Rentnern. Wir haben die letzten Wochen vor allem im Keller unseres Hauses verbracht, weil Tag und Nacht geschossen wurde. Glücklicherweise ist unser Haus älter und verfügt über einen Schornstein, deshalb konnten wir noch mit Holz die Öfen heizen und etwas kochen. Viele andere kochen auf Holzfeuern auf der Straße. Die Temperatur in den Wohnungen liegt bei nur fünf Grad. In unserem Keller haben wir uns irgendwelche Kisten hingestellt, Felle, Pappen und alte Mäntel draufgelegt, um uns mal etwas hinlegen zu können. Und alles bei Kerzenlicht. Kerzen und Batterien für Taschenlampen waren in letzter Zeit das wertvollste Gut.

Bevor ich weggefahren bin, habe ich einen alten Pelzmantel und Lebensmittel an die Nachbarn gegeben. Ich weiß überhaupt nicht, ob sie noch am Leben sind. Heute habe ich eine automatische SMS vom Telefon einer Nachbarin bekommen: „Der Abonnent ist wieder erreichbar.“ Dann habe ich zurückgerufen, aber der Empfang war wieder weg. Es ist schrecklich.

Jetzt habe ich in Artjomowsk eine Bleibe zusammen mit meiner Mutter gefunden. Wir fühlen uns völlig verlassen. Wir haben kein Haus mehr, keine Arbeit. Wie lange wir in Artjomowsk sicher sein werden, wissen wir nicht. Putin will sich wohl alles holen. Und mit den Panzern ist es eine halbe Stunde bis Artjomowsk, und dann sind wir kaputt.

Ich hoffe, dass in Minsk irgendwie dieser Krieg beendet wird. Ich glaube, dass Merkel recht hat, dass dieser Konflikt nicht mit Gewalt beendet werden kann, sondern nur durch Diplomatie. Aber man muss Putin so Angst machen, dass er einlenkt.

Jelena, 54, floh am Freitag aus Debaltsewo ins benachbarte Artjomowsk.

Gennadij hilft mit seinem Bus bei der Evakuierung des Kriegsgebiets

Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
© Gleb Garanich/Reuters

Gestern haben wir noch einen Bus voller Menschen aus Swetlodarsk rausgefahren. Auch diese Stadt ist jetzt unter Beschuss, an die 15 Häuser sind getroffen, und auch dort gibt es kein Wasser und keinen Strom mehr. Ich habe den Menschen, für die kein Platz mehr war, versprochen, dass ich bald wiederkomme. Nur kurz nach unserer Abfahrt ist an der Stelle, an der wir die Leute eingeladen haben, eine Granate eingeschlagen. In Debaltsewo waren wir seit dem Wochenende nicht mehr. Das ist zu gefährlich. Eigentlich hatten wir Absprachen mit den Separatisten und der ukrainischen Armee, dass wir durchfahren können, aber es hält sich niemand daran. Und danach schieben beide die Schuld für den Beschuss auf die andere Seite.

In Debaltsewo finden jetzt schwere Kämpfe statt – die Separatisten rücken vor, die Armee versucht, ihre Positionen zu halten. In so einer Situation wird man automatisch zum Ziel. Egal, ob auf dem Auto deutlich steht, dass wir Zivilisten herausfahren.

"Was ich tue, muss ein Patriot machen"

Was ich tue, das muss ein echter Patriot seines Landes tun. Und nicht die Waffe in die Hand nehmen.

Das Wichtigste ist jetzt, das Feuer einzustellen. Über alles andere kann man sich danach einigen. Es gibt auf beiden Seiten Leute, die dazu fähig sind.

Gennadij, 37, Fahrer der Freiwilligeninitiative „Slawen“, fährt seit Januar mit einem Kleinbus Zivilisten aus Kampfzonen.

Olga weiß nicht, ob ihre Großeltern noch leben

Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
© Gleb Garanich/Reuters

Bis zum vergangenen Sommer habe ich Finanzwesen in Luhansk studiert. Dann kamen die Separatisten und haben sich in unserem Wohnheim einquartiert. Danach begann ich ein Fernstudium von Debaltsewo aus. Doch es gab nie einen wirklichen Waffenstillstand, immer wieder wurden wir beschossen. Unser Nachbarhaus hat ein paar Treffer abbekommen. Von der Druckwelle sind auch bei uns ein paar Fenster kaputtgegangen. Aber überall in der Stadt sieht man Bombentrichter, zerstörte Häuser und nicht explodierte Granaten und Raketen.

Mein Großvater, 83 Jahre alt, und meine Großmutter, 75, sind noch in Debaltsewo geblieben. Sie wollen nicht weg, wollen ihr Haus nicht aufgeben. Aber wir haben überhaupt keinen Kontakt mehr mit ihnen.

"Seit Tagen gehen die Telefone nicht"

Vor zwei Wochen konnten wir noch die Feuerwehr rufen, wenn irgendwo ein Geschoss eingeschlagen war. Seit einigen Tagen gehen die Telefone nicht mehr. Also löschen die Menschen irgendwie aus eigenen Kräften.

Derzeit bin ich bei den Eltern meines Mannes untergekommen. Meine Mutter ist vor einer Woche nachgekommen. Schon seit siebeneinhalb Monaten ist unsere Stadt im Kriegszustand. Das muss aufhören!

Olga, 23, Studentin floh aus Debaltsewo nach Winniza südwestlich von Kiew.

Nikolai hat Angst vor Vergeltung

Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
© Gleb Garanich/Reuters

Richtig angekommen bin ich hier bisher nicht. Seit drei Tagen lebe ich bei meiner Tante in der Region Charkiw. Bis zum Ausbruch der Kämpfe hatte ich in der Stadt Donezk Arbeit als Koch. Doch im Sommer schloss die Cafeteria, und ich ging zu meinen Eltern nach Debaltsewo, um ihnen zu helfen. Seit Anfang Oktober tobt der Kampf zwischen Russen und Ukrainern um die Stadt. Meine Eltern baten mich deshalb, bei ihnen zu bleiben.

Anfang des Winters lebten bereits nur noch Alte, Frauen und Kinder in der Stadt. Im Dezember starb mein Vater. Ich konnte meine Mutter nicht alleine lassen. Mithilfe mehrerer örtlicher Hilfsorganisationen haben meine Mutter und ich die erste Zeit des Winters gut über die Runden gebracht. Doch kurz vor Neujahr wurde die Lage dramatisch schlechter. Die Kämpfe nahmen immer mehr zu, die Stadt war bis auf eine Straße von der Außenwelt abgeschnitten.

Nur ein Frischwasser-Transporter fuhr durch die Straßen und versorgte die Einwohner. Mitte Januar waren Mama und ich zusammen mit einer Handvoll anderer Bewohner gerade dabei, für Wasser anzustehen. Dann wurde die Gruppe plötzlich beschossen. Eine Kugel verletzte meine Mutter schwer. Wir konnten sie aber noch in ein Krankenhaus nach Artemiwsk, eine Nachbarstadt, bringen. Doch die Verletzungen waren so stark, dass eine Operation nötig wurde. Doch das geht dort nicht. Ich will jetzt ihre Verlegung in ein anderes Krankenhaus organisieren.

"Keiner von uns war vorbereitet"

Außerdem muss ich mir eine Arbeit suchen. Kein Mensch, der bislang nichts vom Krieg gewusst hat, kann erfassen, was es bedeutet, wenn plötzlich der Krieg da ist. Keiner von uns war darauf vorbereitet, und ich hoffe, dass der Krieg bald aufhört. Bei uns in der Straße hat eine Nachbarin gewohnt, eine alte Frau, deren Familie in Kiew lebt. Meine Mutter hatte sich um die Greisin gekümmert. Ihre Tochter hat zwar versucht, ihre Mutter in Sicherheit zu bringen, doch dazu kam es nicht mehr. Debaltsewo wurde zu stark beschossen, eines Tages lag die Nachbarin tot in ihrem Vorgarten. Ob sie gezielt erschossen wurde oder einfach nur so rausgerannt war, weiß keiner.

Eigentlich wollte ich in Debaltsewo ausharren, denn ich habe Angst, dass mein Elternhaus zerstört wird. Nicht unbedingt durch Beschuss, aber es laufen schließlich auch Kriminelle herum, die plündern und danach alles abbrennen. Doch am Samstag erschienen dann die Leute von SOS-Krim bei mir. Sie forderten mich auf, mitzukommen, die Stadt stehe kurz vor dem Fall. Ich hatte Angst um mein Leben, weil ich weiß, dass die Russen mich sofort erschießen würden, wenn sie mich finden. Anfang März letzten Jahres hatte ich bei proukrainischen Protesten in der Donezker Innenstadt mitgemacht. So etwas vergessen und verzeihen die Russen nicht.

Nikolai, 40, entkam am Sonnabend aus Debaltsewo.

Pawel floh in Hausschuhen

Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
Nur weg. Damit die Bewohner Debaltsewo verlassen konnten, hatten ukrainische Truppen und Separatisten am Freitag zeitweise das Feuer eingestellt.
© Gleb Garanich/Reuters

Eigentlich wollte ich nicht weg von zu Hause. Ich bin mit meinen 69 Jahren nicht mehr der Jüngste und habe mich in meinem Städtchen Brjanka in der Region Luhansk wohlgefühlt. Nun sitze ich hier, mit einer Plastiktüte und meinen Hausschuhen. Es musste schnell gehen, da habe ich nicht mal mehr meine Schuhe gewechselt. Ich hatte gehofft, ich könnte zu meiner Tochter nach Charkiw. Doch die Behörden sagten mir, dort seien schon zu viele Flüchtlinge.

Wenn die Kämpfe in der Ukraine weitergeht und Putin nicht gestoppt wird, dann wird es in Europa wieder einen Wahnsinnskrieg geben. Die ukrainische Regierung und die Europäische Union können wenig dagegen ausrichten. Der Mann im Kreml akzeptiert doch nur die USA als Gegner, weil die wie Russland Atommacht sind.

Jetzt geht es für mich erst mal nach Poltawa, zwei Nachbarn aus Brjanka kommen mit: der 57-jährige Alexander und die 77 Jahre alte Jelena. Wir haben uns in der Notküche unserer Kirche kennengelernt und ein wenig angefreundet. Die Priester haben dort einmal pro Tag Suppe ausgegeben, das wurde aber immer weniger. Im Sommer hatte ich noch reichlich Obst und Gemüse angepflanzt. Von diesen Vorräten habe ich mich eine Zeit lang über Wasser gehalten. Unsere Rente wurde das letzte Mal vor sieben Monaten ausgezahlt, ich habe überhaupt kein Geld mehr und auch sonst nichts. Ich fühle mich hundeelend.

"Zwei Nachbarn haben sich schon umgebracht"

Ich habe Angst vor dem, was mich in Poltawa erwartet. Ich will auf keinen Fall in eine Unterkunft, wo ich mir mit acht oder zehn Leuten ein Zimmer teilen muss und in einem Doppelstockbett schlafen muss. Sollten dort solche Zustände herrschen, werde ich meine Tochter anrufen und sie bitten, mich zu sich zu holen. Wenn das nicht klappt, dann gibt es nur noch Plan B ... Ehrlich gesagt, habe ich das schon in Brijanka machen wollen, aber ich hatte Schiss. Wenn es weiter bergab geht, sorge ich für mein Ende. Zwei meiner Nachbarn habe ich nach Neujahr gefunden. Die beiden haben sich selber ins Jenseits befördert, weil sie den Frost, den Hunger und die Plünderer auch nicht mehr ertragen haben.

Pawel, 69, erreichte Kiew am Dienstag mit dem Flüchtlingszug aus Donezk.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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