Ganz digital - der Länderrat der Grünen: In der Corona-Krise setzt die Partei voll auf Klima und Europa
Die Bundesgeschäftsstelle ist fast leer, 95 Delegierte sitzen zu Hause an Laptops. Die Grünen haben den ersten Parteitag unter Pandemiebedingungen geschafft.
Das Rednerpult in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen sichert den gebotenen Abstand zwischen den Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck. „Normalerweise passt zwischen Robert und mich kein Blatt“, sagt Baerbock, „jetzt sind es zwei Meter.“ Zwar sehen sich die beiden derzeit ständig in Videokonferenzen, aber persönlich treffen sie sich hier nun zum ersten Mal seit sechs Wochen.
Der erste digitale Länderrat der Grünen, der sich am Samstag auf den Bildschirmen von 95 Delegierten und in einem öffentlich zugänglichen Livestream abspielt, unterstützt von einem Abstimmungstool und einem anderen, das auslost, wer reden darf, ist ein Experiment.
Das zeigt sich vor allem an Details. Als Baerbock bei der Begrüßung gut gelaunt gestikuliert, verschwindet ihr rechter Arm immer wieder aus dem Bildschirm.Das aus der Not, sich nicht physisch treffen zu können, improvisierte Format dient der Partei nicht nur dazu, ihren Kurs in der Coronakrise zu bestimmen. Es soll den Grünen auch helfen, sich endlich wieder mehr Gehör zu verschaffen.
Denn das Virus hat ihren Umfragewerten gehörig zugesetzt. Nach einem Höhenflug, der seit der Bundestagswahl 2017 anhielt, sind die Werte jetzt eingebrochen. Vor der Krise taxierten Institute die Zustimmung für die Partei auf 25 Prozent oder sogar mehr, jetzt sind es satte zehn Prozentpunkte weniger. Doch die Krisensituation ist noch zu neu und zu unwägbar, um über langfristige Trends zu spekulieren. Und zumindest die Mitgliederzahlen steigen weiterhin, über 100000 sind es mittlerweile.
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner freut sich über den Mitgliederzuwachs. „Eine Sensation“, sagte er am Samstag. Er erklärt ihn damit, dass grüne Themen viele Menschen umtreiben: „Die Frage nach dem Klima, die Sorge vor der nächsten Dürre, die um das Auseinanderfallen Europas und der Demokratie.“
Baerbock: "Müssen auf die Verletzlichsten schauen"
Überraschend spät für die Chefin einer ökologisch orientierten Partei kommt Baerbock auf das Klima zu sprechen. Zunächst gibt sie einem anderen Thema Raum. Eindrücklich mahnt sie, in der Krise „auf die Verletzlichsten“ in der Gesellschaft zu schauen – auf Alte und Kranke sowie auf Kinder und die Menschen, die sie betreuen. Die schwierige Situation, in der zum Beispiel Kinder jetzt stecken, „für die die Familie kein heiler Rückzugsort“ sei, berühre sie – „als Mutter, als Politikerin und als Frau“.
Frauen, sagt sie, tragen in dieser Krise die Hauptlast, „zerrieben zwischen Homeoffice, Homeschooling und Homework“. Zwar sei es überfällig und gut, wenn jetzt Spielplätze geöffnet werden. Aber Schaukel und Rutsche ersetzten nicht Betreuung in der Kita und Schule. Auch deshalb argumentiert sie für eine gerechte Verteilung von Ressourcen.
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So könnten sich zwar die Bundesliga und große Restaurantketten Hygienekonzepte leisten, um baldmöglichst wieder den Betrieb aufzunehmen – der Italiener an der Ecke könne das nicht. „Wir dürfen die Freiheit nicht mit dem Recht des Stärkeren verwechseln, sondern müssen auch auf die Schwächsten schauen.“
Dann wendet sie sich den Kernthemen der Grünen zu. Die Pandemie sei existenziell, aber: „Mit unverminderter Härte steht die Klimakrise mitten im Raum.“ Baerbock fordert: „Wir müssen die Klimakrise weiterhin in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen.“
Mit seiner Forderung nach EU-Solidarität rennt Juncker offene Türen ein
Als Gastredner ist am späten Nachmittag der frühere EU-Kommissionschef Jean- Claude Juncker zur Zuschaltung geladen. Er fordert Europa auf zu mehr Einigkeit. „Wir brauchen Solidaritätsbonds“, sagt er. Außerdem müsse sich die EU um die Lösung der Flüchtlingskrise bemühen. „Es gilt gerade jetzt, Europa die Treue zu halten.“ Mit seinen Worten dürfte er für zustimmendes Nicken bei den Delegierten gesorgt haben, die im ganzen Land vor ihren Bildschirmen saßen.
Auch Baerbock bestärkt von der Bundesgeschäftsstelle aus das Bekenntnis der Partei zur europäischen Solidarität: „Wir brauchen jetzt den europäischen Green Deal.“ Europa müsse enger zusammenrücken, um die Krise zu überwinden. Dies ist ein zentraler Punkt auf dem Parteitag.
Bereits im Titel des Leitantrags – „Eindämmung, Erholung und Erneuerung“ – klingt an, dass die Grünen alles auf die Zeit nach der Krise, die der „Erneuerung“ setzen. In seiner Begrüßung betont auch Habeck, man müsse „diskutieren, wie wir durch die Krise kommen – aber auch, wie wir aus der Krise kommen.“
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der sich mit einer vorher aufgezeichneten Rede zu Wort meldet, bittet seine Parteikollegen, jetzt einen „kühlen Kopf“ zu bewahren. Die sich anbahnende Wirtschaftskrise werde den Kampf gegen den Klimawandel erschweren, sagt er und bittet die Delegierten um „Flexibilität, damit wir mit unserem Kernthema mehrheitsfähig bleiben.“
Die Grünen stellen hier auch die Weichen für die Zeit nach der Krise
Seine Rede zeigt, wie sehr es der Partei an diesem Tag darum geht, jetzt schon die Weichen zu stellen, um nach der Krise mit klarem Fokus auf ihre Kernthemen – das Klima und Europa – Politik zu machen.
Parteichef Habeck nutzt seine Rede am Nachmittag auch, um den jungen Menschen zu danken, die jetzt „den Sommer ihres Lebens opfern“. Dass sie jetzt zu Hause blieben und verzichteten, sei „ein wahnsinniges Zeichen von Solidarität und Reife“.
Auch für sie müsse jetzt sichergestellt werden, dass das Geld, das die Grünen mobilisieren wollen, „unsere Wirtschaftsweise auf Klimaneutralität“ umbaue. Auch dafür fordern die Grünen ein massives Konjunkturprogramm. In den nächsten zehn Jahren sollen 500 Milliarden Euro die Auswirkungen der Pandemie sozial verträglich abfedern und, „krisenfestere und nachhaltige neue Wirtschaftsstrukturen aufbauen“. So steht es im Leitantrag, der um kurz vor 19 Uhr ohne Gegenstimmen angenommen wird.